Mythische und künstlerische Bezüge der Bergnamen in Korea im Hinblick auf die Einheit von Berg und Wasser

Von Han-Soon Yim (Seoul)

1. Sprachliche und landschaftliche Einheit von Berg und Wasser
2. Alte und neue Orographie Koreas
3. Mythische und religiöse Bezüge der Bergnamen in Korea
3.1 Schutzberge der Nation: Paekdu- und Hallasan
3.2 Buddhistische und taoistische Utopie: Kumgangsan (Diamantgebirge)
3.3 Märchen aus dem Kumgangsan: Der Holzfäller und die Feenprinzessin Sonnyo
4. Künstlerische Bezüge der Berge und Ströme
4.1 Berg und Wasser in der Literatur
4.2 Natur und Mensch in der koreanischen Malerei im Hinblick auf Europa

Am Wochenende und zum Teil auch tagtäglich treiben viele Stadtbewohner Südkoreas ihre Morgengymnastik, indem sie in die nahen Wälder gehen und von einer jener zahlreichen Wasserstellen ihr Trinkwasser holen, die sie anspruchsvoll „Medizinwasserstelle“ nennen. Sie halten das Grundwasser vom Gebirge für sauberer und gesünder als das Leitungswasser, das z.B. für die beinahe achtzehn Millionen Einwohner der Hauptstadt Seoul und der dicht besiedelten Gebiete um sie herum hauptsächlich vom Hangang (Großfluss) gewonnen wird. Das Bergwasser stellt allerdings in Wirklichkeit oft nichts anderes als ein spärlich sickerndes Oberflächenwasser dar, das verseucht sein kann und daher vom Gesundheitsamt regelmäßig geprüft wird. An Brunnen dieser Art finden sich ab und zu Kerzenstummel, die von einer nächtlichen Anbetung des Drachengottes oder des ortseigenen Berggottes Sanshin durch die Mudang (Schamanin) oder eine Anhängerin des Schamanismus zeugen. Gebetet hat sie wohl für die Heilung einer tödlichen Krankheit, an der sie selber oder ihre Familie leidet. Früher wurde das Ritual häufig auch von kinderlosen Frauen ausgeübt, die sich freiwillig oder gezwungenermaßen einen männlichen Nachwuchs wünschten. Im Spaziergang zur Bergwasserquelle und in der Anbetung der Wasser-, Wald- und Berggeister spiegelt sich der uralte Animismus wider, der bei einer kleinen Bevölkerungsschicht in Korea noch immer lebendig ist.

Für die Frühzeit waren Berge und Gebirge heilig in mehrfacher Hinsicht. Zum einen erschienen sie gleichsam als Übergänge von der Erde zum Himmel oder umgekehrt und daher auch als Aufenthaltsorte von Schutzgöttern oder bösen Geistern, die zu verehren bzw. beschwichtigen waren. Zum anderen fungierten sie klimatisch als Schutzwall gegen die rauhen Nordwinde sowie als Wasserreservoir. Bei aller Naivität des alten Volksglaubens sollten wir die Einsicht in die Zusammenhänge von Berg und Wasser nicht einfach als Überbleibsel eines vergangenen primitiven Zeitalters hintansetzen. Die alte Lebensweisheit hat sich in der Sprache wie im Bewusstsein des Volkes niedergeschlagen und somit auch bei der Benennung der Berge und Ströme in Korea eine zentrale Rolle gespielt.

1. Sprachliche und landschaftliche Einheit von Berg und Wasser

Im Koreanischen heißt Landschaft unter anderem Pungkyong (), eine Bezeichnung, die sich aus den sinokoreanischen Lexemen Wind und Aussicht zusammensetzt. Die Landschaftsmalerei wird daher Punkyonghwa () genannt, wobei das Grundwort Hwa für Bilder steht. Das Kompositum wird allerdings nur für eine Untergattung der abendländischen Malerei (Soyanghwa) verwendet, die in Korea erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt worden ist. In der traditionellen ostasiatischen Malerei (Dongyanghwa) benutzt man für dieselbe Untergattung den Terminus Sansuhwa (), was Berg- und Wassermalereiimage002 bedeutet. Ihre Sujets und Motive stammen tatsächlich immer von der gebirgigen, meistens mit Wasserfällen und/oder Strömen versehenen Landschaft. Wichtig ist in unserem Zusammenhang zunächst die sprachliche Gepflogenheit, dass die Zusammensetzungen (yim04 Berg und Wasser), Sanchon ( Berge und Bäche), Sanha ( Gebirge und Gewässer), Kangsan ( Flüsse und Berge) usw. alle Synekdochen (oder Metonymien) für Landschaft, Land, Heimat oder Vaterland sind. Etwas euphemistisch preisen die Koreaner gern die Schönheit ihrer Landschaft, indem sie die koreanische Halbinsel als Samcholikumsugangsan, d.h. „golden gestickte Ströme und Berge von dreitausend Li“ bezeichnen, wobei das Längenmaß Li 400 m beträgt und das Land somit etwa 1.200 km lang sein soll. Die Umschreibungen des Landes durch Berg und Wasser sind nicht nur poetisch und malerisch gemeint, sondern auch in der Umgangssprache geläufig.

Wie Archäologie und Geschichtswissenschaft über die prähistorischen Zeiten berichten, waren Berge und Gewässer auch für Koreaner die ersten Lebensquellen, zumal sie in den frühen Phasen der Gemeinschaftsgründung meistens noch Jäger, Fischer und Fruchtsammler waren. In einer berühmten Jagdszene der Grabmalerei im Herrschergrab Muyongchong (Grab der Jäger und Tänzerinnen, das vom nördlichen Reich Kokuryo (37 v. Chr.-668) stammt, ist die Landschaft durch wellenförmige Gebirgsketten gekennzeichnet, an denen man eben die Verbindung von Berg und Wasser vermuten kann. Das Land und die Landschaft hießen weiterhin „Berg und Wasser“ in den oben genannten verschiedenen Umschreibungen, nicht aber „Wasser und Flur [Reisfeld]“ oder „Flur [Reisfeld] und Wasser“ u. dgl. m., selbst nachdem der Großteil der Bevölkerung längst zur Landwirtschaft übergegangen war und den Anbau von Reis, Gerste und anderem Getreide eingeführt hatte. Das Wort Sanya ( Berg und Flur) ist zwar auch gebräuchlich, wird aber als einfaches Aufzählen von zwei Landschaften verstanden. Die führende Rolle des Berges bei der Wortbildung kommt darin zum Vorschein, dass ein wesentlicher Teil der koreanischen Ortsnamen das Lexem San (Berg) zum Grundwort hat: Selbst Küstengebiete heißen oft -san, weil sie nach nahen Bergen benannt sind. San und Chon (Strom) sind überhaupt die häufigsten Grundlexeme in den koreanischen Ortsnamen. Die sinokoreanischen Komposita aus Berg und Wasser sind zwar alle chinesischer Herkunft, konnten sich aber im Koreanischen in mehr oder weniger neuen Prägungen leicht einbürgern, weil sie zur Landschaft wie zum Klima des Landes passten und den mythischen wie religiösen Naturvorstellungen des Volkes entgegenkamen.

Korea besteht aus einer 1.200 km langen Halbinsel bzw., um es geologisch genauer zu beschreiben, aus einem 600 km langen und durchschnittlich 150 km breiten Festlandsaum ( Festland-Korea im Norden) und einer übe r 600 km langen und 170 km breiten Halbinsel ( Halbinsel-Korea). Nach der Statistik sind über 70 Prozent der Gesamtfläche des Landes mit großen und kleinen Gebirgen bedeckt. In Wirklichkeit aber herrscht der Eindruck, in Korea lebe man überall in einer gebirgigen oder wenigstens hügeligen Landschaft. Klimatisch liegt das Land innerhalb des ostasiatischen Monsunbereichs im Übergangsgebiet zwischen der kontinentalen Mandschurei und dem maritimen Südwest-Japan. Die Niederschläge sind mit einem Jahresdurchschnitt von 500 bis 700 mm in einigen nördlichen Gebirgen und bis 1.500 mm im Süden ziemlich reichlich, fallen jedoch vorwiegend in der kurzen, tropisch immerfeuchten Regenzeit von Juli bis August. Der Widerspruch von reichen Niederschlägen im Hochsommer und dem Wassermangel vom Frühjahr bis zum Frühsommer ist nicht nur klimatisch, sondern auch geographisch bedingt: Die Pultschollen des Landes sind nämlich im Festland von NO nach SW und dann auf der Halbinsel von N nach S von langen, der Ostküste nahe liegenden hohen Gebirgskämmen durchzogen, wobei beide Teile von der weithin seichten Küste des Gelben Meeres gegen Osten ansteigen und dann steil zu den Tiefen des Ostmeers (Japanischen Meers) abfallen. Östlich von den Kämmen konnten sich weder Flüsse noch Ackerflächen von nennenswerter Größe entwickeln. Auch westlich von den Kämmen fließt das Regenwasser relativ rasch ins Meer. In ganz Korea gibt es weder Moorgebiete noch größere Naturseen, die in den niederschlagsarmen Monaten als Wasserreservoir dienen könnten. Vor dem modernen Staudamm- und Deichbau, der erst Anfang des letzten Jahrhunderts begann und seit den sechziger Jahren mit großem Eifer durchgeführt wird, war die Wasserversorgung hauptsächlich auf Brunnen und Flüsse angewiesen, wobei diese vom Winter bis zum Frühsommer unter spärlicher Wasserführung gelitten haben und trotz zahlreicher Staudämme noch heute leiden. In tiefen Tälern versiegt das Wasser aber nicht leicht. Und es gilt in Korea: Je höher Berge sind, um so tiefer und wasserreicher sind die Täler. Man sah und erkannte also, dass im Anfang auf der Erde Koreas Berge waren, die Wasser vom Himmel aufnahmen und dann das ganze Jahr hindurch wieder abgaben.

Die Gebirgsbildung in Korea wird im allgemeinen durch das Konzept der Plattentektonik erklärt, wie sie sich in den modernen Geowissenschaften etabliert hat. Die meisten Gebirge Koreas sind Faltengebirge und zeigen von Ort zu Ort Verwerfungen oder Bruchfaltungen. Sie sind entweder Schollen- oder Bruchschollengebirge und sollen ursprünglich durch Verwerfungen in der Erdkruste zwischen China und Korea, also im Gebiet des Gelben Meeres, entstanden sein. In der jüngsten Stufe der Gebirgsbildung setzte dann der Vulkanismus ein, der im Norden den heutigen Grenzberg Paekdusan sowie viele über 2.000 m hohe Berge um ihn herum bildete und im Ostmeer die Insel Ullungdo samt ihrer kleinen Tochter Tokdo sowie im Südmeer Hallasan auf Jejudo [Tschedshu, Quelpart], der größten Insel Koreas, auftauchen ließ. Nach seinen letzten Ausbrüchen vor vier- bis dreihundert Jahren (1597, 1668, 1702) ist Paekdusan ein ruhender Vulkan geworden, während Hallasan seit 1006 keine vulkanischen Aktivitäten mehr zeigt und seither als erloschen gilt.

Zufällig repräsentieren die beiden Vulkanberge insofern jene Ganzheit von Berg und Wasser, als sich je ein Kratersee auf ihrem Gipfel befindet: Chonji und Paeknokdam. Im „Himmlischen See“ Chonji (9,2 km2 groß, 312 m tief, 2.155 m hoch), der auf dem Gipfel des Paekdusan liegt und mit seiner ungewöhnlichen Tiefe und Höhe zu den bemerkenswertesten Kraterseen der Welt gehört, entspringen unmittelbar oder mittelbar mehrere Flüsse, darunter die beiden Grenzflüsse Amnokgang (chinesisch: Yalu) und Tumangang. Der See hieß früher auch Yongwangdam (Drachenkönigspfuhl) oder Yongdam (Drachenpfuhl). In dem seit 1945 getrennten Korea stellen die beiden Vulkanberge jeweils die höchsten Berge dar: in Nordkorea der 2.750 m hohe Paekdusan an der nördlichen Grenze zu China und in Südkorea der 1.950 m hohe Hallasan auf der Insel Jeju im Südmeer.

Für beide koreanische Staaten gilt aber Paekdusan als der erste nationale Schutzberg, der für das Land um so wichtiger war, als es sich gegen die mächtigen Nachbarn verteidigen musste. Paekdusan ist eigentlich ein Eigenschaftsname und bezieht sich wohl auf den schneebedeckten, kahlen Gipfel des Bergs, weshalb er von den Mandschus auch Jangbaishan (ewig weißer Berg) genannt wurde und spätestens seit der von ihnen gegründeten Ching-Dynastie Chinas als solcher im Chinesischen gebräuchlich ist. Wörtlich heißt Paekdu jedoch „weißes Haupt“ und klingt für Koreaner geheimnisvoll und ehrfurchtgebietend genug, um den Berg zum Schutzgott des Landes zu krönen.

2. Alte und neue Orographie Koreas

Zur Bezeichnung der Berge bzw. Bergteile werden im Koreanischen drei Lexeme am häufigsten verwendet, die dem Wortfeld von Berg zuzuordnen sind: San ( Berg), Bong ( Gipfel, Spitze) und Ryong ( Pass). Im Begriffsfeld von Berg wird ferner zwischen San (Berg), Sanji (Gebirge), Sanmaek (Bergkette), Sangoe (Bergmassiv) und Kowon (Plateau) unterschieden. Die in der Schulgeographie vergessene Bezeichnung Gan () für etwa „(Berg)stamm“ wird erst seit einigen Jahrzehnten wieder aktuell zur Diskussion gestellt. Auf das traditionelle System zur Gliederung und Benennung der Berge, Gebirge und Gebirgsketten wird gleich näher einzugehen sein. Während die Orts- und Bergnamen in der früheren Kartographie mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben wurden, hat sich in den heutigen Landkarten das erst im 15. Jahrhundert erfundene koreanische Alphabet Hangul durchgesetzt, ohne dass dabei allerdings die herkömmlichen koreanischen Namen wiederhergestellt werden konnten. Diese waren offiziell bereits im Altertum mit den chinesischen Schriftzeichen umgeschrieben worden und gerieten mit der Zeit auch in der Umgangssprache allmählich in Vergessenheit. In den heutigen Landkarten sind nur noch einige wenige Bezeichnungen koreanischen Ursprungs wie Jae (Pass) und Orum (für kleinere vulkanische Erhebungen auf der Jeju-Insel) anzutreffen. Das alte Wort Moe für Berg hat nur noch im Volkslied und in der Lyrik überlebt.

Ist das Wortfeld Sansu sowie ein großer Teil der Ortsnamen von Berg und Wasser abgeleitet, so lässt sich diese Wortbildung u. a. auf die Philosophie von Umyang-Ohaeng()1 und die Lehre von Pungsujiri (yim14)2 zurückführen, die beide im wesentlichen vom Taoismus des alten China herrühren und mit dem koreanischen Volksglauben eine Verbindung eingegangen sind. Im Anschluss an die Tradition der Bergverehrung sowie der Umyang- und Pungsu-Lehre haben die Gelehrten des letzten Königreichs Chosun (1392-1897/1910) interessante Landkarten hinterlassen, in denen sie den Paekdusan zum Ausgangspunkt machten und die Landschaft gleichsam nach dem Prinzip der Einheit von Berg und Wasser systematisch zu erfassen suchten. Für die alten Geographen bildete das Land eine organische Ganzheit, die in Form eines Stammbaums darzustellen war. In dem bis Ende der Chosun-Dynastie verwendeten „Katalog des Gebirgssystems“ Sankyongpyo (yim15) des Gelehrten Kyungjun Shin (1712-1781) heißt der Stamm Paekdudaegan, wobei Daegan (Taegan) wörtlich „großer Stamm“ heißt, aber eher in „Hauptstamm“ zu übersetzen ist. Dieser einzige riesige Stamm wurzelt im Paekdusan, beginnt seinen langen Lauf wie ein kräftiger Baumstamm und läuft über einige Tochtervulkane des Paekdusan zum (ersten) Turyusan (), der „Ausläufer des Paekdusan“ oder „von Paekdusan hergeflossener Berg“ heißt. Hier biegt er nach SW, setzt sich fort über hohe Berge auf dem „koreanische Alpen“ genannten Kaima-Plateau und macht in der Nähe von Wonsanman (Wonsanbucht) gleichsam einen kurzen Halt. Dann setzt er seinen Weg ununterbrochen nach Süden fort über das granitene „Diamantgebirge“ Kumgangsan und den „Großen Schneeberg“ Soraksan im östlichen Mittelteil des Landes bis zum weiteren heiligen Berg Taebaeksan (: großer weißer Berg im Südosten. Die Südhälfte dieser Gebirgskette, die heute Taebacksanmaek (Kette des großen weißen Bergs) heißt und die Ostküste entlang bis nach Pusan verläuft, wird oft halb spielerisch, halb volkskundlich mit dem Rückgrat eines Säugetieres oder mit dem Tiefgang eines Schiffes verglichen. Dem alten System zufolge biegt aber die letzte Strecke des Hauptstamms, eine Diagonalkette, am Taebaeksan nach SW und läuft über den „kleinen weißen Berg“ Sobaeksan () bis nach Jirisan (), der seit jeher als einer der Samshinsans (Drei Götterberge / Drei Berge vom Berggott) gilt. Hier grenzen drei südliche Provinzen aneinander. Früher wurde dieser Berg wie jener im Norden auch Turyusan genannt, weil man meinte, er sei über den Hauptstamm mit dem Wurzel- und Hauptberg Paekdusan verbunden. Auch aus den Namen der beiden „weißen Berge“, des „großen“ und des „kleinen“, ist zu schließen, dass bei der Benennung vieler Berge in Korea immer wieder auf Paekdusan Bezug genommen wurde.

Vom Paekdu-Hauptstamm zweigen ein „Großstamm“ namens Jangbaekjonggan ( ewig weißer Großstamm) und dreizehn Jongmaek (yim21 Hauptzweige) ab. Im Unterschied zum Haupt- und Großstamm sind die Hauptzweige nach den Flüssen benannt, die jeweils in den betreffenden Gebirgen entspringen und durch diese eingegrenzt sind. Die Gebirgskette nördlich des Hangang heißt daher Hanbukjongmaek (Hauptzweig südlich vom Hangang) und die südliche dagegen Hannamjongmaek (Hauptzweig südlich vom Hangang). Dasselbe Prinzip wurde weiter auf die Benennung vieler einzelner Berge übertragen, so dass der nördliche ,Schutzberg` der Hauptstadt Seoul Pukhansan (Berg nördlich vom Fluß Hangang) heißt. Diesem Berg gegenüber steht südlich desselben Flusses der Namhansan (Berg südlich vom Hangang), um den herum eine militärische Schutzmauer aufgebaut wurde ebenso wie auf dem nördlichen Schutzberg Pukhansan. Die vom Hangang und seinen sämtlichen Nebenflüssen durchströmten Gebiete, in deren westlichem Zentrum die Hauptstadt Seoul liegt, sind also von drei Seiten gleichsam eingemauert, und zwar vom Hauptstamm im Osten und von den beiden nördlich und südlich vom Hangang liegenden Hauptzweigen sowie von den ihnen zugehörigen Ausläufern. Auf diese Weise hat man bei der Benennung der Berge, Gebirge und Gebirgsketten dem Zusammenwirken von Berg und Wasser Rechnung getragen.

Das alte Benennungs- und Darstellungsmodell der Gebirge wurde durch die modernen Geowissenschaften verdrängt, als sich Korea vor hundert Jahren nach außen öffnen musste. Die heute geltende Anordnung und Benennung der Gebirgsketten wurde von einem japanischen Geologen namens Koto Bunjiro beeinflusst. Er untersuchte im Einvernehmen mit der damaligen kurzlebigen Regierung des Kaiserreichs Korea (1897-1910) die geologische Struktur des Landes und veröffentlichte seine Ergebnisse in englischer Sprache unter dem Titel An Orographic Sketch of Korea (1903). In der bald darauf folgenden Kolonialzeit verschwand das herkömmliche Gebirgssystem in der offiziellen Kartographie gänzlich, einmal weil das Land zur Modernisierung des Bergbaus sowie zum Ausbau der Infrastruktur die neuen westlichen Geowissenschaften einsetzen musste und zum anderen weil die alten Lehren selber im Lauf der letzten Jahrhunderte fast zu einer abergläubischen Geomantie entartet waren. Die Pungsu-Lehre wird nämlich noch heute von einem großen Teil der Bevölkerung als eine volkskundliche Geheimlehre verstanden, wonach die Lage des Hauses und der Ahnengräber für das Wohl der Familie eine entscheidende Rolle spielen soll. In der neuen Kartographie sind an Stelle des alten einheitlichen Gebirgssystems einzelne, grundsätzlich voneinander unabhängige Gebirgsketten verzeichnet, die sich je nach Geotektonik und Richtung in drei Gruppen gliedern: Die geologisch ältesten Gebirgsketten befinden sich im Norden und laufen von ONO nach WSW in Richtung der chinesischen Halbinsel Liaotung und die meistens im Süden befindlichen hingegen von NO nach SW in Richtung China, während die im letzten Stadium der Gebirgsbildung durch Brüche und Faltenbildungen entstandenen Ketten die Richtung von N nach S aufweisen. Diese dritte Gruppe entspricht dem Hauptstamm Paekdudaegan in der alten Kartographie, besteht aber aus mehreren selbständigen Gebirgsketten, die sich im Alter wie in der inneren geologischen Struktur voneinander unterscheiden.

Im Zusammenhang unserer Thematik ist jedoch von Interesse, dass die alten Vorstellungen über die Berge und Gebirge auch bei ihrer Um- und Neubenennung nicht ganz verschwunden sind. Denn die meisten Bergketten wurden jeweils nach einem repräsentativen San (Berg) oder Ryong (Pass) innerhalb der betreffenden Kette benannt, dessen tradierter Name mit seinen kulturgeschichtlichen Bezügen beibehalten blieb und bleiben musste. Bekannte einzelne Orts- und Bergnamen lassen sich ja im allgemeinen nicht von heute auf morgen umändern.3 Die in NW befindliche Bergkette Myohiangsanmaek z.B. ist nach dem gleichlautenden Berg Myohiangsan („wunderbar duftender Berg“ aus „Berg mit duftenden Bäumen“) benannt. Früher hieß er auch Taebaeksan, ein Bergname, der im Gründungsmythos der Nation eine zentrale Rolle spielt. Viele Koreaner, die sich bei allem guten Schulwissen wohl kaum mehr an die genaue Lage dieser Bergkette erinnern und wahrscheinlich auch weder für ihre geographische Laufrichtung noch für ihre geologische Struktur interessieren, werden einige bereits in der Kindheit erworbene kulturgeographische Kenntnisse über den „duftenden Berg“ nicht leicht vergessen. Hierzu gehört die Geschichte des berühmten buddhistischen Mönchs Samyongdaesa (Großlehrer Samyong), der im ausgehenden 16. Jahrhundert zivile Verteidigungskämpfe im Imjinwaeran (1592-1599), dem siebenjährigen “ (Invasions)krieg der Japaner im Jahr Imjin„, im Gebiet des Myohiangsan-Gebirges organisierte. Auch das Konzept des Stammbaums wurde in der neuen Orographie nicht gänzlich ausgemerzt: Der Hauptstamm des Paekdu wird zwar in mehrere Ketten zerlegt dargestellt, das Bild des Rückgrats wurde aber auf Taebaeksanmaek, die „Kette des großen weißen Berges“, übertragen, zumal sie den Hauptteil jenes Hauptstamms ausmacht und angesichts ihrer Lage im Osten, ihrer Richtung von N nach S und ihrer Größe von über 500 km geeignet ist, weiterhin als Sinnbild der schicksalhaften Einheit des Landes angesehen und verehrt zu werden.

Die geologisch orientierte neue Orographie war ein Ergebnis der modernen Wissenschaften und war insbesondere für die effektive Erkundung und Förderung der Bodenschätze dienlich. Bei aller Wissenschaftlichkeit und bei allen ökonomischen und industriellen Vorteilen leidet sie aber darunter, dass der landschaftlich wie klimatisch bedingte und lebensphilosophisch ergründete Zusammenhang von Berg und Wasser außer Acht gelassen bzw. nicht genügend berücksichtigt wird. Die von alltäglichen Erfahrungen gewonnenen Lebensweisheiten der alten Zeit mussten vor der Herrschaft der Vernunft, der modernen Naturwissenschaft und Ökonomie, zurücktreten, was für die Gegenwart zur Folge hat, dass die Dialektik der Aufklärung auch im Umgang des Menschen mit der Natur immer deutlicher zu Tage tritt. Seit einigen Jahrzehnten haben sich in Korea daher vorwiegend in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Koreanistik, Geschichte und Volkskunde, aber auch in der Ökologie und im Tourismus zusehends kritische Fragestellungen gegen die jetzige Gebirgsdarstellung erhoben. Kritiker, Bergsteiger und -wanderer voran verlangen eine konzeptionelle Wiederaufnahme des alten Stammbaummodells, zunächst für Alpinisten und dann auch für die offizielle Schulgeographie. Ihre Argumente sind manchmal nationalistisch gefärbt und klingen naiv, ganz unbegründet sind sie aber auch nicht. Da heißt es unter anderem, man könne mit Hilfe einer alten Landkarte von jedem Ort des Festlandes und der Halbinsel aus über eine ,Hauptzweig` genannte Bergkette und dann über den Paekdu-Hauptstamm bis zum ,Wurzelberg` Paekdusan eine Gratwanderung machen, ohne dabei die Wanderschuhe ausziehen zu müssen, weil man keinen einzigen Fluss zu überqueren habe. Heißt der erste Grundsatz des Stammbaumkonzepts: Berge sind Wasser, so lautet der zweite: Bergketten und Ströme kreuzen nie einander, während es in der jetzigen modernen Kartographie häufig der Fall ist. Das alte Modell kann auch zur Forschung natürlicher Ortsgrenzen und damit verbundener Erscheinungen wie Dialekte, Unterschiede der Sitten und Gebräuche usw. produktiv eingesetzt werden. Die wachsende Erwartung an das ,alte Neue` wird aber nur soweit in Erfüllung gehen, wie die anthropo- und kulturgeographischen Aspekte gegenüber der Allmacht der Wirtschaft zur Geltung gebracht werden. Die Reichweite und Bedeutung des Stammbaumkonzepts werden noch genauer zu untersuchen sein, zumal die ihm zugrunde gelegte Synthese von Berg und Wasser über ihre landschaftlichen und klimatischen Entsprechungen hinaus Literatur, Kunst, Philosophie, Religion, Wirtschaft und Politik die Gesamtheit der koreanischen Kultur also entscheidend beeinflusst hat.

3. Mythische und religiöse Bezüge der Bergnamen in Korea

3.1 Schutzberge der Nation: Paekdu und Hallasan

Zu den wesentlichen semantischen Elementen der Bergnamen in Korea gehören Mythos, Sage und Legende, wobei hier wiederum das oben festgemachte Zusammenwirken von Berg und Wasser immer wieder zum Vorschein kommt. Ein kurzer Überblick über die Gründungsgeschichte Koreas kann zum Verständnis einiger fortdauernder Mythen und Mytheme über Berge nützlich sein.

Erstes menschliches Leben in Korea hat es nach archäologischen Funden bereits im Paläolithikum, also vor rund 500 000 Jahren, gegeben. Der Beginn der koreanischen Geschichte wird allerdings erst mit dem Jahr 2333 v. Chr. angegeben. Der Ätiologie des Landes zufolge gründete König Tangun, eine mythische Figur, als Sohn des Himmelsgottes und einer Frau des Bärentotemstammes in jenem Jahr das erste Königreich. Es nannte sich Chosun [sogen. Alt-Chosun gegenüber der letzten Chosun-Dynastie], eine an sich lyrische Bezeichnung, die gern mit „Land der Morgenstille“ übersetzt wird. Während sich die Wissenschaftler über die historische Wahrheit des Tangun-Mythos streiten, steht doch fest, dass es im alten Korea Stammesgemeinschaften gab, die sich im Lauf der Zeit zu immer größeren Staaten zusammenschlossen. Nachdem das alte Reich Chosun 108 v. Chr. durch die mächtige Han-Dynastie Chinas aufgelöst worden war, entstanden aus den Stammesstaaten im 1. Jahrhundert v. Chr. Drei Königreiche: Kokuryo (37 v. Chr. – 668 n. Chr.), Paekje (18 v. Chr. – 660 v. Chr.) und Shilla (57 v. Chr. – 935 n. Chr.). Sie erstreckten sich über die gesamte koreanische Halbinsel und reichten im nördlichen Reich Kokuryo bis in die Mandschurei. Seitdem das Shilla-Reich im Jahr 668 die Halbinsel vereinigte, blieb das Land 13 Jahrhunderte lang einheitlich und hat trotz vieler Invasionen von außen seine politische Unabhängigkeit sowie seine kulturelle und ethnische Identität bewahren können. Das Koryo-Reich (918-1392) und das Chosun-Reich (1392-1910, davon Kaiserreich Chosun: 1897-1910) gelangten zu kultureller Blüte und konnten ihre dynastische Macht festigen. Auf die jüngste Geschichte des Landes (1910-1945: Kolonialzeit, 1945/48: Teilung des Landes und Gründung der Republik Südkorea sowie der Volksrepublik Nordkorea), die in unserem Zusammenhang von geringerer Bedeutung ist, brauchen wir hier nicht einzugehen.

Betrachten wir nun den Gründungsmythos des Reichs Alt-Chosun näher, in dem der heilige Berg Taebaeksan vorkommt. Von allen Mythen und Legenden, die es über den Ursprung des koreanischen Volkes gibt, ist der Mythos über den Reichsgründer Tangun der älteste. In dem inoffiziellen Geschichtsbuch Samkukyusa ( Überlieferungen von Drei Reichen, 1.285), das vom Mönch Ilyon in der letzten Phase der Koryo-Dynastie verfasst wurde und von dem der Gründungsmythos herrührt, heißt es:

Prinz Hwanung, der Sohn des höchsten himmlischen Gottes Hwanin, stieg mit 3 000 Untertanen und Dienern unter den Gottesbaum Shindansu auf dem Taebaeksan herab, um dort Shinshi (Gottesstadt) zu errichten. Er gebar Tankun Wangkum, der das Reich Chosun gründete und dort 1500 Jahre lang herrschte. Tankun zog sich dann in den Berg Asadal zurück und wurde Berggott.

Der Himmelsprinz war wohl zugleich Schamane und Medizinmann, wenn es heißt, er habe seiner Gefolgschaft 360 nützliche handwerkliche Tätigkeiten wie das Fischen und Weben sowie Kenntnisse in Landwirtschaft und Medizin nach dem Mondkalender also pro Tag eine Tätigkeit ein ganzes Jahr lang beigebracht. Zu dieser Zeit, so geht die Geschichte weiter, melden sich ein Bär und ein Tiger, die Menschen werden möchten. Prinz Hwanung gibt ihnen Knoblauch und Beifuß und sagt, dass sich ihr Wunsch erfüllen könnte, wenn sie hundert Tage lang in einer dunklen Höhle bleiben und sich nur von den beiden Pflanzen ernähren würden. Der Bär besteht diese qualvolle Probe und wird eine schöne Frau. Dem Tiger fehlt dagegen die nötige Ausdauer, um die Frist durchzustehen. Prinz Hwanung nimmt die aus dem Bären entstandene Dame zur Frau, und sie gebiert ihm einen Sohn, Tangun, der im Jahr 2333 v. Chr. im heutigem Pjöngjang das Königreich Chosun gründet. Noch heute wird in Korea der 3. Oktober, an dem Tangun sein Reich gründete, als Tag der Staatsgründung gefeiert.

Der Standort des heiligen Berges sowie der Staatsgründung ist umstritten. Sollte der Gottesberg Taebaeksan im Geschichtsbuch Samgukyusa den heutigen Paekdusan meinen, so erscheint diese Auslegung angesichts der großen Entfernung zwischen der tatsächlichen Reichshauptstadt Shinshi (Pjöngjang) und Paekdusan als unwahrscheinlich. Der Berg des himmlischen Prinzen Hwanung muss allerdings nicht nahe der Hauptstadt liegen, da sich Taebaeksan () sowohl als Eigenname als auch als allgemeine Bezeichnung für „großer weißer Berg“ bzw. „Berg des Großherrschers“ auslegen lässt. Ein Beispiel dafür ist der heutige Taebaeksan im SO Koreas, der Hauptberg der gleichnamigen Gebirgskette. Bedeutsamer als der Ort der Staatsgründung sind die himmlische Herkunft des Herrscherhauses, die Heiligkeit des Berges und des Gottes- bzw. Lebensbaums sowie die außergewöhnliche Geburt des Herrschers, jene Motive und Symbole also, die in den Mythen der Welt immer wieder auftauchen und längst in verschiedenen Disziplinen erforscht worden sind. Nicht nur Prinz Hwanung steigt vom Himmel herab, sondern auch viele weitere Stammväter und Staatsgründer im Altertum. König Suro (?-199), der Gründer des kurzlebigen Kaya-Reichs im Süden, kriecht aus einem von sechs goldenen Eiern, die vom Himmel auf Kuijibong (Berggipfel Kuiji) in der heutigen Stadt Kimhae gefallen sind; die ,sechs Schulzen von sechs Dörfern`, die Wegbereiter des Shilla-Reichs, steigen ebenfalls vom Himmel herab, um den wiederum von einem himmlischen Riesenei geborenen Jüngling Pakhyokgose zum König zu küren. In solchen Geburts- und Gründungsmythen spiegelt sich die Verehrung des Himmels und der Berge wider, die den ältesten Bestandteil der Naturreligion der Koreaner ausmacht.

Mit dem Motiv der Himmels- und Bergverehrung sind zahlreiche Bergnamen Koreas verbunden, die das Attribut paek ( weiß) enthalten. Es bedeutet auch „sonnig, hell und klar“. Daraus und aus dem noch älteren Namen Pulhamsan () für Paekdusan hat der renommierte Koreanist Namsun Choi die sogen. „Theorie der Pulham-Kultur“ abgeleitet. Demzufolge sind der Bergname Pulham und das Lexem paek gleichbedeutend und entsprechen beide dem koreanischen Grundwort paldda (hell sein) oder puldda (rot sein), beziehen sich also auf Helligkeit, Licht, Sonne, Himmel und Gott und schließlich auf den Sonnenkult in der uralten Volksreligion namens Purukyo, die eine Purunui (lichte Welt) angestrebt haben soll. Hohe helle Bergspitzen galten in dieser Naturreligion als Aufenthaltsorte der höchsten Gottheiten und als Zwischenräume zugleich, die das Himmelreich und die irdische Welt überbrücken. Das so ausgelegte, an Bergspitzen dämmernde himmlische Licht ist auf zweifache Weise in die Bergnamen eingegangen: Während die mit dem Attribut „weiß“ zusammengesetzten Namen meistens Gebirge, selten aber einzelne Berggipfel bezeichnen, tragen viele Hauptgipfel, die in den jeweiligen Bergen oder Gebirgen am höchsten sind, den Namen Pirobong (), d.h. „Berggipfel bzw. -spitze von Piro„. Das Attribut Piro geht auf den Buddha Pirojana zurück, der das Licht verkörpert und seine Gläubigen in eine lichte paradiesische Welt führen soll. Der Pulham-These zufolge ist der Gipfelname Piro jedoch ursprünglich aus Puru / Purukyo abgeleitet und erst später mit dem Lichtbuhhda in Beziehung gesetzt worden.4

Zur Benennung des höchsten Gipfels werden neben Piro weitere Lexeme bzw. Morpheme wie Chon (Himmel), Hwang (Kaiser) und Wang (König) verwendet. Die Hauptberge heißen dann Sahwangbong (Gipfel des meditierenden Kaisers), Yonchonbong (Gipfel der Himmelskette), Chonhwangbong (Gipfel des Himmelskaisers) u.ä. Diese Varianten sind im Grunde alle Synonyme von Pirobong und Paeksan (Weißer Berg), weil sie auf die helle Welt des Himmelsgottes verweisen. Häufig kommt nicht zuletzt auch die neutrale, von religiösen Vorstellungen unabhängige Bezeichnung Ungbong (auch Maebong oder Suribong) vor, die zur Benennung hoher Gipfel fast wie ein Gattungsname verwendet wird: Sie bedeutet „Falkengipfel“ bzw. „Adlergipfel“ und betont die besondere Höhe des damit gemeinten Gipfels.

Im koreanischen Volksglauben waren Berge heilig, so dass sie auch unmittelbar als Gottheiten personifiziert und angebetet wurden. Für jede Einheit der Gesellschaft vom Staat bis zur Familie gab es jeweils Schutzberge (Jinsan bzw. Tangsan ), auf denen zur regelmäßigen Anbetung religiöse Einrichtungen wie Tempel und Steinplatten gebaut bzw. aufgestellt wurden. Am Chonjedan (Kultstätte für den Himmelsgott) auf dem Taebaeksan wird heute noch alljährlich ein feierlicher Kult für den Reichsgründer Tangun abgehalten. Sanshins (Berggötter) wie Tangun werden üblicherweise als alte Herren mit langem Bart dargestellt. Im Altertum gab es aber auch weibliche Gottheiten, deren Altar nicht selten auf dem Berg errichtet wurde. Im taoisitisch beeinflussten Schamanismus hieß die höchste weibliche Gottheit Halmi (Greisin, alte Tante, Großmutter) und wurde sinokoreanisch mit Nogo (alte Tante) übersetzt. Die Kultstätten für sie waren noch zahreicher als die für den Himmelsgott. Ein Gipfel des Jirisan ist nach dieser Göttin als Nogodan (Altar der alten Tante, 1.507 m) benannt. Den höchsten Gipfel des Jirisan, der nach dem Hallasan den zweithöchsten Berg in Südkorea darstellt, würdigt man mit dem männlichen buddhistischen Namen Chonwangbong (Gipfel des Himmelskönigs, 1.915 m), beliebter als dieser ist jedoch der viel niedrigere Gipfel Nogodan, auf dem ein Altar in Form eines Steinhaufens eingerichtet ist. Hier wird noch immer ernsthaft oder scherzhaft gebetet, zumal die Nogo als Erdmutter und Glücksgöttin gilt, die ihren Gläubigen Reichtum und Kinder gewähren soll. Spätestens seit dem Shilla-Reich gab es in Anlehnung an die chinesische Gepflogenheit Samshinsan ( Drei Götterberge / Drei Berge vom Berggott) und Oak ( Fünf Groß-/Hauptberge), die vom Staat ausgewählt und zu bestimmten Festtagen mit reichlichen Opfergaben angebetet wurden. Die „drei Götterberge“ waren Kumgangsan im Osten, Jirisan im Süden und Hallasan auf der Jeju-Insel im Südmeer. Der erste und höchste Haupt- ( Jusan) und Schutzberg ( Jinsan) Koreas ist seit jeher der Paekdusan, der früher, wie gesagt, im gleichen Sinne auch Pulhamsan und Taebaeksan genannt wurde. Bald nach der Reichsgründung ernannte Chosun den Songhwang[shin] (Schutzgott [], heute als Lehnwort Sonang gebräuchlich) seiner ersten, provisorischen Hauptstadt Kaisong zum Hogukgong (yim33 Großherzog für Landesschutz) und dann alle wichtigen Berge des Landes zu nationalen Schutzgöttern Hogukshin () bzw. Schutzfürsten Hogukbaek ( ), um sie in förmlichen Staatsakten anzubeten.5 Der Sitz der zweiten, endgültigen Hauptstadt Hanyang (Seoul) wurde nach der Pungsu-Lehre genau geprüft und in harter Konkurrenz ausgewählt.

Als Myongdang ( rechter, heller Platz), der dem Bewohner des Grundstücks bzw. der Nachkommenschaft der dort Beerdigten Glück und Gedeihen gewähren soll, gelten der ganze alte Stadtkern und/aber zuallererst der Sitz des Hauptpalastes Kyongbokgung () sowie der heutigen Präsidialresidenz Chongwadae. Gemäß der Pungsu-Lehre war bei der Wahl der Sitze dieser Häuser das Zusammenwirken von Berg und Wasser maßgebend, wie es sowohl anhand eines alten Stadtplans als auch an einer modernen Fotoaufnahme ersichtlich ist. In dem Bild ist das in europäischem Stil gebaute Regierungsgebäude der japanischen Kolonialherrschaft, Jungangchong (Zentrales Regierungsgebäude), noch sichtbar, das wohlgemerkt absichtlich direkt vor den alten Palast gestellt wurde. Eben auch deshalb ist es 1997 abgerissen worden, als die Restaurierungsarbeiten an dem in der Kolonialzeit beinahe völlig zerstörten Palast begannen. Man glaubte, die Japaner wollten mit dem Ab- und Umbau des Palastviertels die von den nördlichen Schutzbergen herbeigeführte Erdader bzw. -kraft und damit die Lebensader des Königshauses sowie des koreanischen Volkes abschneiden.

Während der Paekdusan als Hauptschutzberg die Geburt der Nation sowie den Beginn der Welt überhaupt ankündigt und das Nationalbewußtsein des Volkes versinnbildlicht, gilt der Hallasan (), ähnlich wie die Schutzberge der Hauptstadt Seoul, in doppelter Hinsicht als nationaler Schutzberg: Er soll die „Perle Koreas“ genannte Insel Jejudo selbst, zugleich aber auch ganz Korea vor ozeanischen Stürmen und überseeischen Angreifern schützen. Um Hallasan, der mit einer ebenso bunten mythischen Aura umgeben ist wie Paekdu- und Kumgangsan, ranken sich viele Mythen und Sagen, die heute noch beliebt sind und von Reiseführern für groß und klein stereotyp erzählt werden. Es sind in erster Linie ätiologische Geschichten wie der Schöpfungsmythos von der riesigen Greisin Sonmundaehalmang (Halmang: Großmutter, Greisin), die den Inselbewohnern eine Verbindungsstraße zum Festland gegen eine Unmenge Kleiderstoff verspricht, die aber wegen einem unbeabsichtigten Wortbruch der Einwohner ihre Arbeit unterbricht. Vor Wut und Enttäuschung lässt sie aus ihrer riesigen Schürze die mühsam gesammelten Steine und Erdschollen fallen, aus denen sich der 1.950 m hohe Vulkanberg auftürmt. Unverkennbar stellt diese Riesin eine Variante der Erdgöttin Nogo dar, die vor allem auf dem Jirisan verehrt wird. Eben dem Wunsch der Inselbewohner nach einem Zugang zur Außenwelt scheint sich die lyrische Bezeichnung Hallasan zu verdanken: Sie lässt sich in „Berg zum Anfassen der Milchstraße“ übertragen. Der Kratersee am Gipfel hat auch den phantasievollen Namen Paeknokdam (), der soviel wie „Pfuhl der weißen Rehe (oder Hirsche)“ bedeutet und offenbar den Schnee bzw. dichten Nebel auf dem dunklen Berggipfel reflektiert. Diese Tiere galten als Inkarnation des Berggottes Sanshin, so dass sie kein Jäger töten durfte. Über fast alle weiteren vulkanischen Erhebungen, Gipfel, Felsen und Felsketten der Insel sind mythische oder sagenhafte Geschichten überliefert.

Weder der Hintergrund noch der Vorgang der Mythenbildung lassen sich verallgemeinern. An den bisher herangezogenen Beispielen können wir zunächst feststellen, dass viele Bergnamen in Korea mythische oder religiöse Bezüge haben. Die Namen bezeichnen eigentlich Besonderheiten wie Farbe, Form, Höhe, Größe oder Lage des jeweiligen Berges. Zur Charakterisierung augenfälliger Merkmale werden häufig religiöse oder mythische Figuren, Erscheinungen bzw. Tiere herangezogen oder auch neue Mythen erfunden, die kraft beflügelter Einbildungskraft des Menschen oft eine kosmische Größe erreichen. In den Bergnamen und Mythen dieser Art ist die Ehrfurcht der alten Zeit vor den Bergen deutlich zu spüren.

Die Bergverehrung hat sowohl in der Umgangs- als auch in der Fachsprache Spuren hinterlassen, deren Ausmaß kaum zu überblicken ist. Die Koreaner werden gleichsam mit Berg und Wasser geboren und beerdigt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Für (männliche) Vornamen immer seltener, aber für Künstlernamen noch am häufigsten wählt man die Grundwörter –san ( Berg), –am ( Felsen), –sok ( Gestein), –gok ( Bergtal) sowie –su ( Wasser), –gye ( Bach), –chon ( Strom / Brunnen), –gang ( Fluss) usw. Das sind alle wiederum Lexeme aus den beiden Wortfeldern Berg und Wasser! Da sich die buddhistischen (und taoistischen) Tempel mit wenigen Ausnahmen in entfernten Bergen befinden, können das Verb ipsan (-hada) ( in den Berg eintreten) ebenso wie die Synonyme chulga (die Familie verlassen) und chulse (die Welt verlassen) noch heute als eine Umschreibung für „sich zum Buddhismus bekennen und Mönch werden“ verwendet werden. Stammen die Koreaner als Nachkommen des Himmelsprinzen Tangun und seiner Dienerschaft vom Berg, so gehen sie nach dem Tod in diese Heimat zurück, indem sie in den Bergen beerdigt werden. Das ist der eigentliche Sinn des Schlusssatzes im oben zitierten Gründungsmythos, der lautet: „Tankun zog sich dann in den Berg Asadal zurück und wurde Berggott.“ Die koreanischen Gräber sind traditionell hügelförmig. Ahnengräber nennt man ehrfürchtig Sanso, das wörtlich „Berg“ oder „Bergstätte“ heißt. Wenn einer sagt, er sei an einem Feiertag „auf dem Berg gewesen“, so meint er damit im entsprechenden Kontext, die Grabstätte seiner Familie besucht zu haben, die sich in der Regel auf dem Sonsan („Ahnenberg“/-grabstätte) seiner Sippe oder dem Schutzberg seines Heimatdorfes befindet. Von der Namensgebung bis zur Beerdigung, von der Wiege bis zur Bahre also, sind die Koreaner untrennbar mit dem Berg verbunden, der sie schützt und geborgen hält.

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3.2 Buddhistische und taoistische Utopie: Kumgangsan (Diamantgebirge)

Wie an den Bezeichnungen der Hauptgipfel großer Berge und Gebirge erkennbar ist, haben die animistische und schamanistische Volksreligion, der Taoismus und der Buddhismus bei der Benennung der Berge konkurrierend zusammengewirkt. Obwohl hierüber keine vergleichende Statistik vorliegt, hat der Buddhismus dabei eine führende Rolle gespielt, zumal er seit der Zeit der Drei Reiche über tausend Jahre lang als die einzige Staatsreligion gepflegt und gefördert wurde. In dieser Zeit entstanden unzählige Bergtempel, deren Namen oft mit ihren Schutzbergen unmittelbar zusammenhängen.

Unter den buddhistischen Bergnamen ist Kumkangsan der bekannteste. Wie das härteste Mineral Diamant in Kumgangsok (-stein) übersetzt wird, verkörpert Kumgang im Buddhismus das Härteste und Stabilste, das alle Dinge der Materialwelt sowie alle menschlichen Begierden und Sorgen zerschlagen kann. Kumgangkyong ( Vajracchedika [prajna paramita]) heißt so der buddhistische Kanon, der für absolute Leere des Inneren sowie völligen Verzicht auf die sinnliche Außenwelt plädiert. Er war im koreanischen Buddhismus am weitesten verbreitet. Unser Bergname soll freilich nicht direkt von diesem herkommen, sondern vom Kanon des realiter orientierten Taesung-Buddhismus ( Mahajana: großes Fahrzeug) Hwaomkyong ( Garland Sutra). Da steht geschrieben: „Im Osten gibt es Kumgangsan, wo Bodhisattwas (koreanisch Bosal ) wohnen.“6 Für Buddhisten war dieser Berg also ein Jongto (reines Land), das soviel wie Paradies/Heiligtum bedeutet und gemäß des Herkunftslandes des Buddhismus eigentlich im fernen Westen liegen soll.

Vor der Festlegung der jetzigen Bezeichnung hatte der Berg eine Vielzahl weiterer Namen. Neben Kumgang hieß er buddhistisch auch Yolban (Nirvana), also Tod als Erlösung. In dem antibuddhistischen, konfuzianischen Chosun-Reich dürften daneben auch die volkstümlichen Namen beliebt gewesen sein: Weil dieser Berg, klimatisch bedingt, je nach der Jahreszeit verschieden aussieht, nannte man ihn im Frühling Kumgang (Diamant) in Bezug auf seine Blütenpracht, im Sommer Pongnae (üppiges Grün), im Herbst Pungak (bunt gefärbter Großberg) und im Winter Kaegol (öde Skelette). Eine weitere lyrische Variante lautet Jijo (purer Stolz). Im Volksmund ist fast allein Kumgangsan gebräuchlich, wobei die ethymologischen Semanteme bzw. religiösen Assoziationen wie granitene Härte oder seelische Ruhe beinahe vergessen sind. Im Bewusstsein der heutigen Koreaner ist dieser Berg in erster Linie ein Sinnbild der Schönheit, Pracht und Mannigfaltigkeit. Das gesamte Gebirge ist je nach Lage in vier Teile gegliedert: Nae-, Oe-, Shin– und Haekumgang (Innerer, Äußerer, Neuer und Meereskumgang). In zahlreichen alten und neuen Lobliedern, Reiseberichten sowie in der Berg- und Wassermalerei Sansuhwa wird immer wieder stolz auf die stattliche Gipfelzahl von 12.000 verwiesen. Um nur einige der berühmtesten davon zu nennen: Buddhistisch oder nach der Volksreligion Purukyo genannt ist der Hauptgipfel Pirobong (1.638 m), gefolgt von den buddhistischen: Sejonbong (Gipfel des Siddhartha), Sipwangbong (Gipfel von zehn Königen), Kwanumyonbong ([die sägezahnähnliche] Gipfelkette des [barmherzigen Zuhörers] Avalokitesvara), Kuksabong (Gipfel des königlichen Staatsmönchs) und Myongkyongdae (Feuerspiegel / heller Spiegel). Ein viereckiger Felsblock ist nach diesem buddhistischen Phantasiespiegel benannt, der am Eingangstor des Elysiums zur Bloßlegung aller guten und schlechten Taten des Gestorbenen aufgestellt sein soll. Taoistisch bzw. volkstümlich wären: Jipsonbong (Gipfel der Eremitengruppe), Oknyobong (gesprochen Ongnyobong: Gipfel der Jadenfee), Samsonam (Felsen dreier göttlicher Eremiten), Kuimyonam (Felsen des Teufelsgesichts, auch buddhistisch). Ohne unmittelbare religiöse Bezüge sind: Ilchulbong (Gipfel des Sonnenaufgangs), Wolchulbong (Gipfel des Mondaufgangs), Chailbong (Gipfel des Sonnenzelts), Chokdaebong (Gipfel des Kerzenleuchters), Paekmabong (Gipfel des weißen Rosses), Kumsadari-Unsadari ([Felsen der] Gold- und Silberleiter).

Diese Namen stehen stellvertretend für andere Berge und Gebirge ganz Koreas. Außer mythischen oder sagenhaften Personifikationen sind Tiere zur Benennung einzelner Berge und Bergteile überhaupt sehr beliebt: Neben Ma (Pferd), Ho (Tiger), Suri (Adler) und Mae (Falke) kommen mythische Tiere wie Yong (Drache) und Ponghwang häufig vor. Bong ist männlicher, Hwang ist weiblicher Phönix. Pibongpokpo heißt also „Wasserfall des fliegenden Phönix“. Zur Gattung Drache gehören Kongnyong (Dinosaurier) und Kyeryong (,Hahnendrache`, nach der Form vom Hahnenkamm). Jener wird zur Bezeichnung einer Gipfelkette im Soraksan an der Ostküste verwendet, und der Keryongsan befindet sich in Mittelkorea. Auch wenn diese Namen im Grunde die äußere Form der Berge mittelbar oder unmittelbar nachzeichnen, sind für fast alle wichtigen Berge, Gipfel, Pässe, Felsen, Höhlen, Täler, Wasserfälle, Becken und Ströme je eine oder mehrere mythische, sagen- oder märchenhafte Gestalten bzw. Geschichten überliefert. Historische Personennamen sind als Bergnamen kaum anzutreffen. Unter den bekanntesten Bergen sind ausnahmsweise der Juwangsan im SO und der dem Soraksan nahe liegende Kariwangsan (1.560 m) im Mittelosten nach sagenhaften chinesischen Königen benannt: Juwang, König von Ju, und Kariwang, König Kari des Landes Maek (), sollen jeweils jener nach einer fehlgeschlagenen Rebellion gegen die Tang-Dynastie und dieser vor eingedrungenen Feinden nach Korea geflüchtet sein. Juwang () bezieht sich allerdings auf ein Land und den Stand des Königs im allgemeinen Sinn, nicht aber auf einen Personennamen. „Wangsan“ (Königsberg) ist ein häufiger Bergname in Korea, bezeichnet in der Regel ohne Bezug auf eine historische Person den höchsten Berg in der jeweiligen Umgebung. Berge waren offenbar zu heilig und geheimnisvoll, um nach Sterblichen, wären sie auch mächtige Herrscher gewesen, benannt zu werden.

3.3 Märchen vom Kumgangsan: Der Holzfäller und die Feenprinzessin Sonnyo 7

Seit 1998 hat der Kumgangsan (Diamantgebirge) einen neuen, politischen Stellenwert von nationaler und internationaler Bedeutung. Der Berg ist nämlich heute überhaupt das einzige Gebiet Nordkoreas, das Südkoreaner, wenn auch nur für ein paar Tage und zu touristischen Zwecken, besuchen dürfen. Angesichts dieser fortdauernden Tragikomödie des getrennten Landes und dessen Sehnsucht nach baldiger Wiedervereinigung sei hier ein Volksmärchen angeführt, das aus dem Gebirge Kumgangsan stammt und in dem animistische wie taoistische Bezüge des tradierten Volksglaubens lebendig sind.

Es geht um die Liebesgeschichte eines armen Holzfällers:

I) Der Holzfäller rettet einen verwundeten Hirsch vor der Verfolgung eines Jägers. Aus Dankbarkeit will ihm der Hirsch, in Wirklichkeit Tochter des Berggottes Sanshin, einen Wunsch erfüllen. Der Holzfäller, der aus Armut noch nicht heiraten konnte und mit seiner alten Mutter allein lebt, wünscht sich eine Frau.

II) Beim nächsten Vollmond geht der Mann zu einem Wasserbecken, wohin die sieben [drei8, acht9] schönen Himmelsfeen Sonnyos zum Baden absteigen. Er versteckt ein Flügelgewand von ihnen. Ein Mädchen, das ohne das Kleid nicht wieder in den Himmel zurückfliegen kann, nimmt er nach Haus und heiratet es.

III) Allmählich liebt Sonnyo ihren Mann auch, möchte aber in ihre Heimat zurück und fragt ihn bei jeder Gelegenheit nach dem verschwundenen Federkleid. Als sie ihm drei [zwei] Kinder geboren hat, glaubt er, sie nicht weiter belügen zu brauchen. Eigentlich hätte er ihr das Kleid, so hatte der Hirsch gewarnt, nicht zurückgeben sollen, bis sie vier [drei] Kinder gebiert. Nun zieht sie das Flügelgewand auf der Stelle an und fliegt hinauf in den Himmel, alle drei [beide] Kinder, je eins in jedem Arm [und das dritte zwischen den Beinen] tragend.

IV) Der Hirsch hilft dem verzweifelten Mann noch einmal: Da die Feen seit jenem Brautraub nicht mehr herunterkommen und statt dessen ihr Badewasser vom Wasserbecken in den Himmel holen, soll sich der Mann in ihrem Eimer verstecken und hinaufsteigen. Das tut er, sieht seine Familie im Himmelreich wieder und darf dort mit ihr zusammen leben.

V) Selbst im Paradies kann er jedoch nicht auf Dauer glücklich sein, weil seine alte Mutter unten auf der Erde allein gelassen ist. Es ist auch seine Pflicht, sich um sie zu kümmern. Mit einem fliegenden Ross kommt er seine Mutter kurz besuchen. Von dem Himmelspferd darf er aber auf keinen Fall absteigen und die Erde berühren. Voll Freude kocht ihm die Mutter die Kürbissuppe, die ihm früher immer gut geschmeckt hat. Vor Eile und aus Versehen lässt er dem Pferd einen Tropfen davon auf den Rücken fallen. Das erschreckte Tier stutzt, wirft den Mann ab und fliegt allein weg. Er kann seine Frau und Kinder nie wieder sehen. Mit gebrochenem Herzen stirbt er bald danach. Bei seinem Tod springt ein Hahn auf das Strohdach der Hütte und kräht zum Himmel. Die Dorfbewohner meinen, dass im Hahn die Seele des Holzfällers weiterlebe.10

Bedeutsam und folgerichtig ist, dass diese Geschichte in dem als religiöse Utopie vorgestellten Kumgangsan spielt. Auch in Korea ist Utopia Niemandsland und wird gern in einen unterseeischen Yongkung (Drachenkönigshof) oder auf eine unbewohnte Insel, vor allem aber auf einen menschenleeren Berg verlegt, der von einem Sanshin (auch Sanshinryong, gesprochen Sanshillyong: Berggott) überwacht, von Shinson (göttliche Eremiten) und Sonnyo (Himmelsfeen) bewohnt oder besucht wird. Das untrennbare Verhältnis zwischen Berg und Gottheiten kommt in dem Lexem Son zum Ausdruck, dessen chinesisches Schriftzeichen E0B9 aus Mensch und Berg besteht und bei wörtlicher Wiedergabe „Bergmensch“ oder „Mensch im Berg“ bedeuten würde.

Dass nun in unserem Märchen gerade der ärmste Mann das schönste himmlische Mädchen Sonnyo zur Frau gewinnt, ist nur in der Zwischenwelt des Berges vorstellbar, in der das Göttliche und das Menschliche, der Himmel und die Erde sich berühren und zusammenkommen. In die eheliche Verbindung zwischen den heterogenen Partnern, einer Unsterblichen und einem Sterblichen, in der gewagtesten Mesalliance also, ist ein Wunschtraum der unteren Schichten projiziert, der sich auch im Sinne der Freudschen Traumdeutung psychologisch verallgemeinern ließe. Die Verwirklichung dieses Traums ist sowohl sozialgeschichtlich als auch in der imaginären Mythenwelt erst dann gewährleistet, wenn der entsprechende Wille, wie es im Tangun-Mythos sowie in den bunten Abenteuern des griechischen Zeus der Fall ist, von oben nach unten in die Tat umgesetzt wird. Das Begehren von unten nach oben ist eine verbotene Anmaßung, die in der abendländischen Tradition üblicherweise noch schlimmere Folgen nach sich zieht als bei unserem Holzfäller: Der griechische Jäger Aktäon wird ja zur Strafe in einen Hirsch verwandelt und grausam von seinen eigenen Jagdhunden zerrissen, als er auch nur zufällig die Göttin Diana beim Baden beobachtet.

Von besonderem Interesse ist der irdische Badeplatz der himmlischen Mädchen. Sie baden in Sangpaldam (Obere acht Wasserbecken), der oberhalb des Kuryongpokpo (Wasserfall der neun Drachen) liegt und zusammen mit diesem zu den schönsten Sehenswürdigkeiten des Gebirges zählt. Nicht nur im Kumgangsan, sondern fast in allen bekannten Bergtälern in Korea gibt es Felsen und Wasserbecken, deren Namen auf göttliche Wesen bezogen sind. Die männlichen Gottheiten Sanshin (ryong) und Shinson werden üblicherweise als alte, aber unsterbliche göttliche Eremiten mit langem Bart dargestellt, während die Sonnyos mit wenigen Ausnahmen stets als ewig junge und hübsche Mädchen erscheinen. Im Soraksan (Großer Schneeberg), der wegen seiner Schönheit auch „der zweite Kumgangsan“ genannt wird, betrachten Shinsons die Berglandschaften genügsam von Wasondae (Felsboden liegender göttlicher Eremiten) her oder steigen von Pisondae (Felsen fliegender göttlicher Eremiten) in den Himmel; Sonnyos dagegen baden nackt und betreiben dabei ihr Spiel beim Vollmond in Sibisonnyotang (Badebecken der zwölf Feen / Nymphen), das dem Namen nach für sie allein reserviert ist. Freibäder für Sonnyos und Ruhe- bzw. ,Abflugsplätze` für Shinsons scheinen für die alten Koreaner zu den notwendigsten Bestandteilen eines schönen Gebirges gehört zu haben. Auch Juwangsan (Berg des Königs von Ju) sollte wenigstens mit einem Feenbad und einem Götterfelsen ausgestattet sein, um sich seines königlichen Namens würdig zu erweisen.

Im Märchen vom Holzfäller und der Himmelsfee Sonnyo wird das Wasserbecken im Bergtal sehr kunstvoll beschrieben. Der Erzähler will offenbar eine träumerisch neblige Atmosphäre der Phantasiewelt aufkommen lassen und dabei die Erotik diskret zum Vorschein bringen, die den durstigen Burschen in Atem hält. In einer englischen Übertragung des Märchens heißt die Stelle:

The woodcutter hid among the bushes and waited with fast-beating heart. Soon seven lovely maidens flew down from the skies to the lakeside; there they cast off their silken robes and plunged happily into the cool waters of the lake where they splashed and swam to their heart’s content. Each had long raven-black hair and skin the colour of moonlight. Scarcely able to tear his gaze away, the woodcutter remembered the deer’s words […]. (Ebd., S. 23 f.)

Die weibliche Schönheit im Mondlicht, die der Holzfäller keinen Augenblick aus den Augen lassen kann und vor der er auch seine eigentliche Absicht beinahe vergisst, wird mit der ebenso phantastischen nächtlichen Landschaft in Parallele gesetzt. Die entsprechende Beschreibung in der vorangegangenen Passage lautet:

[…] in a circle of trees and bushes, he came upon the most beautiful lake. Streams of crystal water flowed into it, some tumbling over rocks in waterfalls; the lake’s waters glistened in the moonlight, reflecting the dark green trees and gaunt grey cliffs about. Small wonder the old folk say, „Speak not of beauty until you’ve seen Diamond Mountain“. (Ebd., S. 23).

Die erotischen Anspielungen beim Zusammenspiel der Natur und der Mädchen sind naiv und primitiv, um so mehr aber von Mythemen getränkt. Das vom Dickicht der Bäume und Sträucher umschlossene Wasserbecken wäre etwa als ein Sinnbild der Weiblichkeit auszulegen. Die Berühmtheit des schönen Diamantgebirges wird eigentlich zum Vorwand genommen, um die Schönheit der Mädchen in ihrer vollkommenen Harmonie mit der Natur auszudrücken. Der Kontrast zwischen dem schwarzen Haar und der vom Mond beleuchteten Blöße der Mädchen entspricht dem zwischen dem Rand des Wasserbeckens und dem weißlich glitzernden Wasserspiegel. Der Höhepunkt der so kontrastierten Schönheit der Natur einerseits und der Weiblichkeit andererseits ist in der doppelten Einheit der Kontraste erreicht: Wie sich das Dickicht um das Becken und der Wasserspiegel zur Schönheit der Natur vereinen und dementsprechend aus dem schwarzen Haar und der weißen Haut der Mädchen ein (koreanisches) Idealbild der weiblichen Schönheit entsteht, harmonisieren die beiden synthetischen Schönheiten, die Natur und die Weiblichkeit, zur letzten und vollkommenen Einheit, die nichts Geringeres als einen klassischen Ausgleich von Natur und Mensch darstellt.

Die Handlung des Märchens ist, sei es klassisch oder bürgerlich, wie ein spannendes Trauerspiel gebaut. Aus unserer Nacherzählung ist ersichtlich, dass die Geschichte in fünf Stufen verläuft: Exposition, Steigerung, Klimax, Umkehr (Retardation) und Katastrophe. Die Tragik entsteht einmal (II-III) aus dem Konflikt zwischen der himmlischen Zugehörigkeit des Mädchens und dem irdischen Begehren des Mannes und dann (IV-V) aus dem inneren und sozialen Konflikt des Mannes zwischen „Wollen“ (Liebe) und „Sollen“ (Pflicht), um mit Goethes Begriffen zu sprechen. Der Schwerpunkt der Ästhetik liegt dabei im Moment der Steigerung, in dem eben die mehrfachen Kontraste zur Harmonie verschmelzen. Dieses Ideal ist vermittelt im wesentlichen durch die Harmonie in der Landschaft, also wiederum durch die Einheit von Himmel (Mond) und Erde, von Berg und Wasser. Nicht zufällig wird hier, und nur hier, die Berühmtheit des Kumgangsan hervorgehoben und auf die weibliche Körperschönheit übertragen.

Abgesehen davon, dass der Handlungsort Kumgangsan buddhistischer Herkunft ist, sind die Grundzüge der Geschichte, die Vorstellung von göttlichen Menschen voran, eher volkstümlich und taoistisch. Der Buddhismus musste sich in seiner ersten Verbreitungsphase in Korea hart durchkämpfen und etliche animistische und schamanistische Elemente in seine Praxis aufnehmen. Über Kuryongpokpo (Wasserfall der neun Drachen) ist eine weitere legendäre bzw. märchenhafte Volkserzählung Streit zwischen neun Drachen und dreiundfünfzig Buddhas11 überliefert, die womöglich diesen Aspekt des Glaubenskampfes andeutet. Während die ruhigen „acht oberen Wasserbecken“ Sangpaldam von Feen besucht werden, ist der direkt unter dem Wasserfall Kuryongpokpo tief in den Felsboden hineingebohrte Kuryongyon (Wasserpfuhl von neun Drachen) ursprünglich von neun Drachen besetzt gewesen. Den sprudelnden Pfuhl machen ihnen eines Tages 53 Buddhas streitig, weil sie den Platz wohl für ihre Meditation geeignet finden. Kämpfen wollen die beiden Seiten aber nicht um Leben und Tod, sondern es soll in einem Wettkampf mittels ihrer Zauberkünste entschieden werden, wer den Pfuhl künftig bewohnen darf. Über den Hergang des Kampfes liegen zwei Versionen vor: In einer werden die Buddhas mit ihrem magischen Feuerzeichen Sieger, in der anderen die Drachen mit ihrem Wolkenwirbel und Schauerregen. Das ist eine gerechte Lösung, die im Bild des Ausgleichs von Feuer und Wasser wohl auf die mehr oder weniger friedliche Koexistenz des Buddhismus und des Volksglaubens anspielt, und zwar sowohl in den Bergnamen als auch in der Religionsgeschichte Koreas.

4. Künstlerische Bezüge zu Bergen und Strömen

4.1 Berg und Wasser in der Literatur

Eigennamen einschließlich Orts- und Bergnamen sind grundsätzlich allein an die damit bezeichneten Personen bzw. Gegenstände gebunden, so dass ihre Inhaltselemente teilweise mit der Zeit immer mehr in Vergessenheit geraten. Das gilt vor allem für die mythischen Bezüge der Bergnamen. Die einstige Identität von Form (Bergnamen) und Inhalt (Mythos) wird mit der Zeit brüchig und ist irgendwann nicht mehr haltbar, weil der letztere in der Geschichte vom Leben her in Frage gestellt, verworfen und vergessen worden ist. Auch wenn die ursprünglichen Bezüge, die bei der Benennung lebendig waren, im heutigen Sprachgebrauch nicht vollständig verschwunden sind, so können sie doch keinen verbindlichen Wahrheitsanspruch mehr erheben. Theoretisch bliebe am Ende dieser Entwicklung nur noch eine rein formale Gleichsetzung zwischen Namen als Bezeichnendem (Signifikant) und Bergen als Bezeichnetem (Signifikat) übrig. In Wirklichkeit leben die überlieferten Bezüge jedoch im Bewusstsein wie im Alltag der Koreaner weiter, und zwar auf vier Ebenen.

Erstens werden Berge und Ströme von einer kleinen Schicht der Bevölkerung noch abergläubisch verehrt und angebetet. Von der primitiven, egozentrischen und egoistischen Form der Pungsu-Lehre sind die meisten Koreaner einschließlich frommer Christen und führender Politiker noch nicht völlig frei. Eng verwandt mit dieser anachronistischen Erscheinung ist zweitens die Tatsache, dass die tradierten, auf die Natur bezogenen Haltungen und Vorstellungen im Interesse der Wirtschaft verdrängt oder nur noch formalistisch in Anspruch genommen werden. Wenn z.B. ein neues Besiedlungsprojekt in einer hügeligen Landschaft durchgeführt wird, feiert die dafür zuständige Baufirma ihren Arbeitsbeginn üblicherweise mit einer Anbetung des Berggottes, auch wenn sie allein an einer rücksichtslosen Ausnutzung des Ortes interessiert ist. Drittens sind die mythischen Elemente längst im metaphorischen Sinn umgedeutet und in der Scheinwelt der Künste aufgehoben. Sie greifen zwar nicht mehr unmittelbar in die Realität ein, werden aber zum ästhetischen Genuss erhoben und können dabei auch neue Erkenntnisse hervorbringen. In Verbindung mit diesem Aspekt können viertens die bisher noch nicht erkannten oder verbrauchten emanzipativen Momente des Mythos neu entdeckt und belebt werden. Hierzu gehören die ökologischen Einsichten, die wir bereits in Bezug auf das alte Konzept des Stammbaums diskutiert haben.

Dieser Wandel sowie die Vielfalt der Form-Inhalt-Relation lassen sich sowohl in literarischen als auch in malerischen Kunstwerken verfolgen, in denen Berge und Ströme thematisiert werden. In den ältesten Liedern wie Tusolga (Lied von Tusol), die aus Lob- und Gebetssprüchen für Naturgottheiten bestehen, kommen religiöse Glaubensbekenntnisse unmittelbar zum Ausdruck. Die Lieder aus der Zeit der Drei Königreiche wie Hyangka von Shilla beginnen bald die Landschaften als ästhetische Objekte zu würdigen. Berg und Wasser gehen zur Zeit des Koryo-Reichs als fester Bestandteil der lyrischen Volksmusik in die Literatur ein, werden dann etwa seit dem 16. Jahrhundert die ganze Chosun-Dynastie hindurch in den Mittelpunkt der Motivik und Thematik der lyrischen Gattungen sowie der Landschaftsmalerei gestellt. Der Pyolgok genannte „reimlose Gesang“, Lyrik und Versepik aus dieser Zeit wie die „Lieder von den vier Jahreszeiten“, „Zwölf Gesänge von Tosan„, „Neun lyrische Gesänge von Kosan„, „Neue Gesänge im Gebirge“ und „Tagebücher im Gebirge“ zählen zum Kernstück der klassischen koreanischen Literatur. Inhaltlich sind sie im wesentlichen Loblieder auf die Schönheit der Natur, zum Teil aber auch direkte oder indirekte Klagelieder gegen die schlechte politische Wirklichkeit. Wenn viele Lieder und Gesänge das Eremitenleben eines Gelehrten preisen, so wollen die Dichter entweder die Reinheit der Natur dem als unzulänglich empfundenen realen Leben vorhalten, im privaten wie im sozialen Bereich den Gram einer verkannten Treue und unerwiderten Liebe zum Ausdruck bringen oder ihre Loyalität ihrem Herrscher bzw. Land gegenüber beteuern. In allen Fällen werden die Wesensmerkmale der Natur, vor allem die Beständigkeit der Berge als Treue in menschlichen Beziehungen und die Beweglichkeit der Flüsse als Sinnbild der geistigen Agilität oder der Vergänglichkeit der Liebe angerufen.

In der alten koreanischen Lyrik wird die Natur also selten als selbständiges Objekt beschrieben, sondern stets auf das menschliche Zusammenleben bezogen. Im folgenden soll dies an einigen Textbeispielen veranschaulicht werden, die volksnah und daher noch heute beliebt sind. In Arirang, einem der ältesten und bekanntesten Volkslieder Koreas, ist der gleichnamige imaginäre Berg ein willkommenes Hindernis, das den Geliebten vom Fortgang abhalten soll. Es heißt sinngemäß: Wer mich im Stich lässt und über den Berg Arirang fortgeht, möge sich gleich den Fuß verstauchen. Das ist kein Fluch, sondern ein Abschiedslied oder eine diskrete Liebeserklärung. Aus diesem Themenkreis ist ein Lied in der typisch koreanischen Dreizeiler-Form Shijo überliefert, in dem dieses Mal ein aktives Liebesbekenntnis ausgesprochen wird und daher auch der hohe Berg für die liebende Frau keine Schwierigkeit mehr darstellt. Eine anonyme Dichterin, die vom gelehrten Konkubinenstand Kisaeng kommt, singt: „Before they cross this mountain ridge, / The wind, even the clouds, must rest. // Before these heights, sea hawk and cliff hawk / Must pause, then soar over. // But tell me he is on the other side, / And I will yield no pause, no rest.“ Die Dichterin weiß natürlich, dass hohe Berge oft „Falkengipfel“ heißen.

Den Volksliedton haben die gesellschaftlich verachteten Kisaengs oft besser getroffen als ihre Herren und Liebhaber, die als Angehörige der Yangban genannten Oberschicht beruflich hohe Beamten und nur nebenher Dichter waren. Von den gelehrten Konkubinen und Dichterinnen, die mit ihren innigen Liebesliedern in der koreanischen Literaturgeschichte höher geschätzt werden als viele Beamtendichter, gilt Jini Hwang als die beste. In dem Dreizeiler I Have a Will macht sie sich über die herkömmliche Vorstellung lustig, Beständigkeit des Berges sei eine Männertugend:

I have a will like a blue mountain; / His love for me is a green running stream.
Shall a blue mountain change / With the rushing of green waters?
He will not forget this blue mountain; / His green cries resound as he goes.12

Hier geht es nachweislich um ein persönliches Klage- und Bekenntnislied der Dichterin, was uns nicht weiter interessieren soll. Durch die wiederholte Gegenüberstellung von Berg und Strom will sie ihre Treue, die angesichts ihres Berufs keine Selbständigkeit ist, im Bild des ruhenden Berges beteuern, ohne dabei die zunächst der Unbeständigkeit des fließenden Wassers bezichtigte Liebe ihres Geliebten Lügen zu strafen. Er muss gehen, und sie hat Verständnis dafür, weil sie an seine Liebe glaubt. Die Gegensätzlichkeit in der Natur ist nur hervorgehoben, um die Einheit der Gegensätze oder die Hoffnung auf deren dauerhafte Einigung in Liebe auszusprechen.

In diesem Lied beruft sich Jini Hwang unausgesprochen auf Konfuzius. Die Gelehrten des konfuzianischen Chosun-Reichs lernten schon in ihrer Kindheit die Schriften von Konfuzius auswendig, der in einem Gespräch mit seinen Schülern einen Lehrspruch über den Charakterunterschied der Menschen im Bild von Berg und Wasser aussprach. In Lunyü (Gespräche) heißt es: „Der Wissende freut sich am Wasser, der Fromme (,Sittliche`) [Menschenliebende] freut sich am Gebirge. Der Wissende ist bewegt, der Fromme [Liebende] ist ruhig; der Wissende hat viele Freuden, der Fromme [Menschenliebende] hat ein langes Leben“.13 Der erste Satz wurde in Ostasien ein Sprichwort. Konfuzius spricht hier nur von Männern oder von Menschen im allgemeinen, nicht aber von Mann und Frau. Den Gegensatz von Beweglichkeit des Wissensdurstigen und Beständigkeit des Menschenliebenden hat die Dichterin auf ein kurzfristiges vergängliches Liebesverhältnis übertragen und dabei der Männerwelt einen nachsichtigen, aber resoluten Fingerzeig gegeben über die Widersprüchlichkeit ihrer tradierten Tugendbegriffe: Die höchste Tugend des Konfuzianismus In ( ECD2 Menschenliebe / Sittlichkeit), modifiziert in Liebestreue, nimmt das lyrische Ich in seiner Eigenschaft als Vertreterin des weiblichen Geschlechts für sich in Anspruch.

Ist die Einheit (bzw. Widersprüchlichkeit) von Berg und Wasser in privaten Liebesliedern auf den Mikrokosmos von Mann und Frau reduziert, so wird sie bei patriotischen Dichtern zum Sinnbild des Vaterlandes. Der treue Untertan und Gelehrte des Chosun-Reichs Sang-Hyon Kim (1570-1652) versprach dem Schutzberg der Hauptstadt und ihrem Hauptstrom, seinem Vaterland also, seine Rückkehr, als er das Land verlassen musste: „Muss ich gehen, lieber Samgaksan, / Wiedersehen, lieber Hangang!“ Den nördlichen Schutzberg, der heute nach dem Konzept des Stammbaums Pukhansan (Berg nördlich von Hangang) heißt, nannte man der äußeren Form nach auch Samgaksan (Dreigipfelberg). Kim wurde als Kriegsgefangener in die Mandschurei verschleppt, als Chosun 1636 im Verteidigungskrieg gegen die Invasionsarmee der dort aufgehenden chinesischen Ching-Dynastie eine schändliche Niederlage erlitt. Kim beginnt sein patriotisches Klagelied mit Berg und Wasser. Es ist eine Gepflogenheit in Korea, dass die lyrische Gattung Hymne immer, sei es über das Vaterland oder ein Kleindorf, sei es über eine Grundschule oder Universität, mit dem Schutzberg und Hauptstrom bzw. Meer des jeweiligen Sitzortes angestimmt wird. So beginnt die koreanische Nationalhymne: „Bis das Ostmeer ausgetrocknet, Paekdusan geebnet wär‘, / Gott im Himmel schütze unser Vaterland, es leb‘ hoch!“ Das Ostmeer, auch Japanisches Meer genannt, und Paekdusan stehen zusammen als Metonymie für Korea ebenso wie die Zusammensetzungen Kangsan (Fluss und Berg) und Kangto (Fluss und Erde), die sich auf unser Kernwort Sansu (Berg und Wasser) reduzieren lassen. Das ist keine metaphysische oder rein rhetorische Figur, sondern eine reale, wohl globale Erscheinung, wie Österreich im Anfangsvers seiner Nationalhymne gepriesen wird als ein „Land der Berge, Land der Ströme“.

Diese ursprüngliche Ausdrucksweise der Vaterlandsliebe haben auch zahlreiche moderne Dichter in Anspruch genommen, unter denen Yuksa Yi (1904-1944) mit seinem pathetischen Gedicht Wide Plain hervorragt:

When heaven first opened,
Somewhere a cock must have crowed.

No Mountain ranges
Rushing to the longed-for sea
Could have dared to invade this land.

While busy seasons gust and fade [gusted and faded]
With endless time,
A great river first opens [opened] the way.

Now snow falls,
The fragrance of plum blossoms is far off.
I’ll sow the seeds of my sad song here.

When a superman comes
On a white horse down the myriad years,
Let him sing aloud my song on the wide plain.14

In der japanischen Kolonialzeit politisch verfolgt, starb Yi als Gefangener in einem Gefängnis in China und wurde berühmt durch seine Gedichte, die erst posthum 1946 erschienen. In Wide Plain greift er offenbar auf den Gründungsmythos von Tangun zurück, um einen künftigen Neubeginn des untergegangenen Landes in Aussicht zu stellen. Auf dem weiten Boden des befreiten Vaterlandes soll später ein Übermensch als Nachfolger des Autors auftreten und dessen lyrisches Vermächtnis erklingen lassen. Der Begriff „Übermensch“ ist möglicherweise von Nietzsche übernommen, die Diktion und Stimmung des Gedichts erinnern jedoch eher an Hölderlins Werke wie Heidelberg und Dichterberuf. Augenfällig ist in der sukzessiven malerischen Darstellung des Mythos, dass der im und vom Himmel in Gang gesetzte Schöpfungsprozess nicht in der Einheit von Gebirgen und Strömen (bzw. Meer) vollendet, sondern bis zum letzten Zielort, zur „weiten Ebene“, fortgesetzt wird. Die Ebene steht wohlgemerkt für die Räume, die von den meisten Menschen bewohnt werden und in denen ihr reales Leben stattfindet. Demgemäß ist die Rolle der Gebirge darauf begrenzt, diese Ebene aus der Ferne zu beschützen. Und die Ströme (neuer Ideen der modernen Welt) sollen sie gang-, bewohn- und fruchtbar machen, kurzum erschließen. Nicht der Berg als ein vom Alltag abgegrenzter, gesonderter Ort wie Kumgangsan sei es für Buddhismus oder Taoismus, sei es für Eskapismus oder Tourismus ist die anzustrebende Utopie, sondern der vom Himmel verheißene Lebensraum des Volkes. Das Gedicht wäre als eine Säkularisierung des koreanischen Nationalmythos auszulegen, die allerdings auf keinen Fall mit der faschistischen Mystifizierung von Begriffen wie Boden und Lebensraum in Parallele zu setzen ist.

In Wirklichkeit waren Berge eigentlich nicht weit entfernt vom realen Leben. Im Shilla-Reich pilgerte die militärische Elitegruppe, die sich Hwarangdo (Bund der Blütenjugend) nannte und bei der Gründung des ersten vereinten Reichs in Korea eine zentrale Rolle spielte, regelmäßig zu berühmten Bergen, um sich dort geistig wie körperlich zu trainieren. In der koreanischen Geschichte waren große Berge und Flüsse in diesem Zusammenhang auch zur Verteidigung des Landes von großer Bedeutung. Auf wichtigen Schutzbergen wie Pukhansan und Namhansan wurden Festungen samt Schutzmauern gebaut. Politische Funktion und geschichtliche Bedeutung der Berge sind in der Gegenwart durch einen historischen Roman erneut ins Bewusstsein der Koreaner gebracht worden. In dem zehnbändigen Riesenwerk Taebaeksanmaek (1983-1989) von Jongnae Jo geht es um den kommunistischen Widerstandskampf, der während des Koreakrieges (1950-53) von den im Süden versprengten nordkoreanischen Truppen und ihren Kollaborateuren durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt der kaum überschaubar verzweigten Handlung des im Lukácsschen Sinne realistischen Bestsellers steht Jirisan als Hauptschauplatz. Über 80.000 im Süden Koreas verschanzte Kommunisten wurden größenteils in diesem Bergmassiv ausfindig gemacht und getötet, so dass der Berg als Zeuge blutiger Aufstände und verbrecherischer Massenmorde noch nicht vergessen ist. Der Berg steht am südwestlichen Ende der Sobaeksanmaek (Bergkette des kleinen weißen Berges), jener Bergkette, die diagonal nach NO verläuft und mit der im Titel genannten Kette, dem Rückgrat des Landes nämlich, verbunden ist. Dem alten Konzept des Stammbaums nach, von dem der Autor freilich keinen unmittelbaren Gebrauch macht, heißt der Berg Duryusan (Ausläufer des Paedusan) und bildet den südwestlichen Schlusspunkt des Paeduhauptstamms. Der Schauplatz und der Titel sollen auf den Umkreis der in den Roman einbezogenen politischen Geographie Koreas verweisen, um die Brutalität des verbrecherischen Bürgerkrieges anzuklagen und/aber zugleich die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung des getrennten Landes15 zu untermauern.

4.2 Natur und Mensch in der koreanischen Malerei im Hinblick auf Europa

In der Malerei ist die Vielfalt der auf Berge bezogenen Assoziationen, seien sie mythisch oder realistisch, weniger zu spüren als in der Literatur. Zu einem interdisziplinären Vergleich sollte man sich am besten an die Lessingsche Unterscheidung zwischen Poesie und Malerei halten. Im Laokoon meinte er bekanntlich, das Häßliche oder Furchterregende werde in der Malerei, im Gegensatz zur dramatischen Poesie, vermieden. Dieser Grundsatz lässt sich auch in der koreanischen Kunstgeschichte feststellen. Böse Tiere wie Füchse mit neun Schwänzen, gefährliche oder harmlose (männliche) Berggeister namens Santokaebi, gramerfüllte und todbringende Gespenster von ermordeten Jungfrauen u. ä., die in der Sagen- und Märchenwelt Koreas meistens in Bergen oder an Grabstätten wimmeln, wurden weder von der Tiermalerei noch von der vornehmen Welt der Berg- und Wassermalerei aufgenommen. Dämonen werden lediglich in der buddhistischen Holzschnitzerei dargestellt, um, meistens im Eingangstor der Tempel aufgestellt, von den mächtigen furchteinflößenden Torhütern Sachonwang (Vier Himmelskönige/-götter) niedergetreten zu werden. Gemeinsamkeiten sind eher im Wandel der Themen und Gattungen zu suchen, wobei eine diachronische Entwicklungslinie vom Mythos zur Wirklichkeit zu beobachten ist.

Unter dem Einfluss Chinas bildeten Berge und Ströme auch in Korea den Hauptbestandteil der Landschaftsmalerei, und zwar bereits seit dem 11. Jahrhundert. Bekanntlich sind die Bilder dieser Gattung beinahe ausschließlich der Natur gewidmet, zumal sie als eine Art Ersatznatur für Stadtbewohner konzipiert waren.16 Das obligatorische Zusammenspiel von Berg und Wasser geht einerseits auf den oben zitierten Spruch von Konfuzius zurück, stützt sich andererseits auf die Taoisten, die das Wasser als Inbegriff der höchsten Tugend Tao betrachteten und ihm metaphysisch wie ethisch besondere Bedeutung beimaßen.17 In ihrem Hauptwerk Taoteking wird das Wasser die „höchste Güte“ genannt, weil es „allen Wesen […] ohne Streit [nütze].“ Durch seine Beweglichkeit gewinnt das weiche Wasser auch Macht, wie es in dem berühmten 78. Kapitel heißt: „Auf der ganzen Welt / gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. / Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, / kommt nichts ihm gleich.“18 Dementsprechend wird das Wasser in Sansuhwa immer als fließendes Bergwasser, also als Wasserfälle oder Ströme zusammen mit Bergen dargestellt, nie aber als Flüsse im Flachland oder als Meer in der Küstenlandschaft.

Berg- und Wasserbilder wurden grundsätzlich im Atelier mit oder ohne Bezug auf reale Landschaften gemalt. Aus diesem und anderen maltechnischen Gründen erscheinen sie als stark idealisiert, obwohl eine „Übereinstimmung der dargestellten Formen mit den natürlichen Objekten“ eins der sechs Prinzipien19 dieser Malerei war. Der Mensch scheint nur eine sekundäre oder überhaupt keine Rolle zu spielen. In einem frühen chinesischen Beispiel Buddhistischer Tempel in Bergen nach einem Regen (um 950) von Cheng Li ist ein Tempelbesucher unten links so unscheinbar gezeichnet, dass er im ersten Blick kaum zu merken ist. Und um in einer Utopie, wie sie in dem Traumwanderung im Kirschgarten genannten Bild vorgestellt wird, leben zu können, scheint für den koreanischen Maler des 15. Jahrhunderts Kyon Ahn noch kein irdischer Mensch gut genug gewesen zu sein: Dort ist offensichtlich kein Wanderer mit dargestellt. Wird dem Menschen ein gerechterer Platz eingeräumt wie dem Eremiten in dem Werk Ein hoher Lehrer betrachtet das Wasser von Huian Kang (1417-1464), so ist er doch nur eine halb göttliche und halb menschliche Gestalt, die anscheinend mehr zum Jenseits gehört als zur hiesigen Welt.

Die Anerkennung der vom Menschen unabhängigen Natur, in der die Menschen und ihre Tätigkeit einen recht bescheidenen Platz einnehmen bzw. in der erst die menschliche Existenz einen Sinn erhält, ist ja, sei die Natur idealisiert oder realistisch gemalt, gerade das Hauptkennzeichen der traditionellen Berg- und Wassermalerei Koreas. Hierzu betrachten wir ein Bild von Hongdo Kim (1745-1806) aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Kuryongyon (Wasserpfuhl der neun Drachen), ein Werk der Gattung Realistische Landschaftsmalerei (Jinkyong F2D8CCD8 , 1675-1800), die eine realistische Untergattung der Berg- und Landschaftsmalerei darstellt. Die Legende über den Streit zwischen Drachen und Buddhas um den Pfuhl haben wir bereits in die Betrachtung einbezogen. Der Wasserfall samt dem Becken wird in der Kritik20 als zu schwach beanstandet, während dem Figurenteil nichts entgegenzusetzen ist. Nach Menschenspuren muss der Betrachter aber auch hier lange suchen: Unten in der Mitte klettert ein Gelehrter die Leiter herunter, gefolgt von einem Reisegenossen, der sich noch hinter dem Felsblock befindet. Diesen winzigen Gestalten ist das Motto in den Mund gelegt, das lautet: „Auf den Felsen um die Rutschgefahr besorgt, / In den Höhlen den Fluchttrieb zu unterdrücken bemüht, / Fürchten wir, die Drachen neun im Pfuhl uns doch den Kleinmut wollten verspotten.“ Hier ist die allgemeine Grundhaltung der Berg- und Wassermalerei gut getroffen: Vor der Mutter Natur fühlt sich der Mensch klein und nichtig, wie er ja im Vergleich zur dargestellten Umgebung auch wirklich so unscheinbar klein ist. Das Verhältnis zwischen Natur und Mensch ist in diesem Bild also nicht zugunsten der Natur stilisiert, sondern im Hinblick auf den wirklichen Größenunterschied der beiden Teile realistisch dargestellt, wie es eben die Gattungsbezeichnung Jinkyong suggeriert.

Trotz des Übergewichts der Natur, die ihrerseits in harmonischer Einheit von Berg und Wasser erscheint, wird der Mensch nicht negiert, sondern als ein Teil der Natur, als Verehrer ihrer Erhabenheit und Genießer ihrer Schönheit verstanden. Um ein hiermit vergleichbares Stadium der Landschaftsdarstellung zu erreichen, musste die europäische Malerei einen sehr langen Weg zurücklegen. Dem Kunsthistoriker John Ruskin21 fiel auf, dass sich Landschaftsmalerei in Europa erst spät am Anfang des 17. Jahrhunderts voll entfaltet hatte. Hatte die Natur in Ostasien über tausend Jahre lang ununterbrochen im Mittelpunkt der Malerei gestanden, so hat sich die europäische Kunst ebenso lange oder noch länger hauptsächlich für Menschen interessiert, für Menschen an und für sich sowie in ihren Beziehungen zueinander, zu Gott und zur Götterwelt. In Bezug auf die Landschaft in der Malerei wäre zunächst kein großer Unterschied zu machen zwischen den so sehr antithetischen Epochen wie der Antike und dem christlichen Mittelalter bzw. dem Mittelalter und der Renaissance. Der Eintritt der Natur in die Kunst wurde nämlich nicht allein durch die mittelalterliche Theologie erschwert, sondern in gewisser Hinsicht auch durch das anthropozentrische Weltbild seit der Renaissance. Die Landschaftsmalerei, die erst in Holland um 1600 aufzublühen begann und sich bald dort wie in England als eine neue Gattung etablierte, war seit Mitte des 15. Jahrhunderts durch allmähliche Integration der Natur in figürliche Szenen langsam vorbereitet worden.

In der Taufe Christi (um 1445) von Piero della Francesca ist die Landschaft, anders als bei früheren Andachtsbildern, kein flüchtiges durchs Fenster erblicktes Symbol mehr. Sie umgibt die Hauptszene der Gestalten und lässt diese als in die Wirklichkeit eingebunden erscheinen. Weitere Fortschritte wurden bei den großen Meistern der italienischen Renaissance und dann bei Albrecht Altdorfer und Pieter Brueghel erreicht. Sowohl für Mona Lisa (1503-1506) und Heilige Anna Selbdritt (1508-1510) von Leonardo als auch für Madonna im Grünen (1505/06) und Madonna di Casa d’Alba (um 1510) von Raffael bildet die Landschaft thematisch wie strukturell einen dem Figurenteil untergeordneten Hintergrund. Bei Leonardo ist die Landschaft von einer mythischen, überirdischen Atmosphäre verschleiert und steht mit den sonderbar rätselhaften Gesichtszügen, Augen und Mundwinkeln der Figuren, kurzum mit ihrem doppelsinnigen ,Halblächeln` im Einklang. Bei Raffael ist sie dagegen vom hellen Sonnenschein eines heiteren Sommertages durchflutet und mit dem ebenso klaren und verklärten Figurenteil harmonisiert. In Brueghels Bildern wie Kornernte und Heimkehr der Jäger (1565) aus dem Zyklus der Jahreszeiten wird der Landschaft ein größerer Stellenwert beigemessen. Es sind im Wesentlichen Landschafts- und Stimmungsbilder, die auf das konkrete Menschenleben in der Gegenwart des holländischen Malers verweisen. Aus einer Luftperspektive ist die Landschaft jeweils großzügig aufgenommen, im Vordergrund stehen jedoch Menschen als Protagonisten, und zwar Bauern und Jäger inmitten bzw. nach ihrer harten Arbeit. Bei Brueghel „vertritt diese niedrigste aller Klassen die ganze Menschheit“22 und steht damit den vornehmen Gestalten wie in der italienischen Renaissance sehr fern, in der die Menschen als Heilige, Herren der Schöpfung oder als mythisch-poetische Bewohner des antiken Arkadiens idealisiert sind. Im Hinblick auf die Rolle der Landschaft sind seine Bilder trotz dieser thematischen Modernität nicht weit entfernt von den Hauptwerken der Hochrenaissance. Im 16. Jahrhundert gelang es nur Altdorfer, Zeichnungen und Ölbilder wie die Danaulandschaft (um 1530) zu malen, die „ohne jegliche figürliche Darstellung oder narrativen Inhalt […] zu den frühesten reinen Landschaften in der europäischen Kunst [gehören]“.23

Wir gehen davon aus, dass in Altdorfers Donaulandschaft beispielsweise die Selbständigkeit der Natur in ihrer Einheit von Berg und Wasser zum erstenmal soweit erreicht ist wie in der asiatischen Berg- und Wassermalerei. Wo findet sich aber die Harmonie von Natur und Mensch, wie sie etwa in unserem Märchen vom Holzfäller und Sonnyo zum Vorschein kommt? Wo treffen sich, abgesehen von der Gattung Landschaftsmalerei, die asiatische und die europäische Malerei, wenn ihre Ausgangspunkte so grundverschieden und wie zwei Pole entgegengesetzt waren? Ob sie sich jeweils in die Gegenrichtung bewegt haben und bewegen mussten? Die Entstehungsgeschichte der europäischen Landschaftsmalerei scheint diese Annahme zu bestätigen. Hier musste die Natur in die im weitesten Sinne anthropozentrische Selbstdarstellung des Menschen einziehen, während in der asiatischen Berg- und Wassermalerei der Mensch aus Geist und Fleisch wie der Holzfäller in die heilige Welt der Berge und Wasser eindringen musste. Dieser ästhetische und geschichtsphilosophische Treffpunkt ist in Europa am besten in der Renaissancemalerei zu finden, wie sich aus unserem kurzen Überblick ergeben hat. Die koreanische Malerei hingegen, in der die wirklichen Menschen überhaupt vernachlässigt wurden und vor allem die weibliche Blöße nie gezeigt werden durfte, erlebte gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Wende, als die Gattung Pungsokhwa (Genre-/Sittenbilder) ihre höchste Blütezeit erreichte und diese sich über manche Tabus einigermaßen hinwegsetzen durfte.

Am erfolgreichsten waren auf diesem Gebiet Yunbok Shin (um 1758 bis um 1820) und Hongdo Kim. Während dieser auch in anderen Gattungen wie Landschaft und Portrait produktiv und erfolgreich war, konzentrierte sich Shin fast ausschließlich auf Sittenbilder, indem er die Alltagsszenen der vornehmen wie der niederen Volksschichten gleichermaßen unter die Lupe nahm. In Bezug auf das Holzfäller-Märchen betrachten wir zuerst Tanopungjong (Szenen vom Tano). Am Festtag Tano, dem 5. Mai nach dem Mondkalender, haben die Mädchen und Frauen einen ruhigen hügeligen Ort gesucht, um sich an der Blumenpracht des Frühlings zu freuen und sich dem uralten Brauch gemäß mit dem duftenden Heilkraut Kalmus im Talwasser die Haare zu waschen. Die Badenden werden von zwei Wandermönchen beobachtet, die sich offenbar nur für diese interessieren und wie unser Holzfäller von der weiblichen Sinnlichkeit gefesselt sind. Die Dame auf der Schaukel ist stolz auf ihre bunte Tracht im kräftigen Kontrast von Gelb und Rot und zeigt unbewusst ihre Unterhose, was aber angesichts der Übermacht der badenden Kolleginnen wirkungslos bleibt. Das Haarkämmen ist wiederum ein Zeichen, das nicht nur in Korea von Bedeutung ist.24 Ein Dienstmädchen, das für die Damen den Picknickkorb mitbringt, trägt auch zur Steigerung der erotischen Atmosphäre bei. Das Begehren der Natur in der Natur hat der Maler insgeheim wohl auch auf den vorderen Baum übertragen, der mit seinen leidenschaftlich verschränkten Zweigen und mit seinem womöglich zum Zeichen der Weiblichkeit verformten unteren Stamm schräg den Badenden gegenüber steht. Seine herausfordernde Pose gleicht nicht zufällig jener der schaukelnden Dame. Der Ausflugsort am Bach steht geographisch, zeitlich und kulturell für den Zwischenraum, in dem sich die polaren Kräfte wie Geist und Körper, Mann und Frau, Berg und Wasser, Himmel und Erde, Natur und Mensch, Mythos und Realität treffen. Dieser Raum ist insofern auch zeitlich abgehoben, als er zwischen der ewigen Ruhe des Berges und der ewigen Geschäftigkeit der Arbeitswelt zwar im Leben notwendig, aber nur vorläufig gegeben ist. An diesem räumlich und zeitlich gesonderten Treffpunkt haben sich die Frauen zusammengefunden, die sich ansonsten je nach ihrem sozialen Stand schinden oder langweilen mussten. Die Frauen vornehmer Schichten, die sich Yangban nannten, durften ihr Haus nur bei besonderen Gelegenheiten verlassen. Über die Hohlheit des konfuzianischen Sittengesetzes macht sich der humorvolle Maler lustig, indem er die weibliche Scham zu dessen Prüfstein macht und sie gerade dem Voyeurismus des damals gesellschaftlich verachteten Mönchsstandes preisgibt.

Ein weiterer Treffpunkt war die Waschstelle im Freien, vor deren Anziehungskraft offenbar auch der Gelehrtenstand nicht sicher war. In seinem Bild Waschstelle zeigt Hongdo Kim einen Gelehrten, der auf seinen sozialen Stand sowie geistigen Führungsanspruch so stolz ist, dass er bei seiner unwürdigen Neugier ausgerechnet auf die arbeitenden Weiber niederen Standes sein Inkognito wahren will. In der als Fröhliche Unterhaltungen am Bach betitelten Waschszene von Shin, die sich nicht nur technisch besser ausnimmt als die von Kim, blickt ein vorbeigehender junger Jäger aus dem Soldatenstand, der wohl nicht um seinen Gesichtsverlust fürchten muss, sehnsüchtig über den Strom nach dem Mädchen, das seinen Blick beim Kämmen mit einem verführerischen Lächeln erwidert. Seine (jägerische) Begierde spiegelt sich diesmal in den Felsblöcken wider, die teilweise mit Büschen bedeckt sind. Die gebrechliche Greisin, irritiert durch die unsittsamen Sichtkontakte der beiden, erblickt das Mädchen, das ihre Enkelin sein könnte, mit scheltenden Augen, wobei sie sich selber aber nicht einmal um ihre eigene Blöße kümmert. Denn sie ist bereits zu alt, um sich zu schämen. Abgelenkt durch den Eindringling, schlägt die junge Frau, möglicherweise Tante oder Mutter des Mädchens, mit dem hölzernen Waschknüppel nur kraftlos noch weiter auf die Wäsche.25 Die Schönheit dieser Bilder liegt in erster Linie in der Einheit von Natur und Mensch. In den Sittenbildern Shins begegnen sich die Menschen vorwiegend in der Natur und nur zum Teil in geschlossenen Räumen.

Über diese Einheit, in der auch Mythos und Realität zusammenkommen, ließe sich eine Verbindung zwischen Ost und West herstellen. In der Einteilung der Bildfläche wie in der Gegenüberstellung gespannter polarer Kräfte, die sich in der Natur wie im Menschen aneinander ziehen und eine Entladung anstreben, wäre die Waschszene Shins mit dem Sturm (um 1508) von Giorgione (um 1476/78-1510) vergleichbar. In diesem Bild wird die unsichtbare, aber kraftvolle Spannung im Innern der Figuren durch das Unwetter im Himmel sichtbar gemacht. Den lyrischen Gehalt derartiger Bilder, in denen Natur und Mensch verschmelzen, würdigten die Venezianer bald mit dem Begriff „Poesie“, als dessen Hauptvertreter Tizian (Tiziano Vecellio, um 1488-1576) auftrat. Unter seinen von Giorgione inspirierten Jugendwerken dieses Bildtypus wird Ländliches Konzert (um 1508) noch hoch geschätzt, als dessen Maler auch jener in Frage kommt. Das Bild sollte den Impressionisten Manet zu seinem Frühstück im Freien (1863) inspirieren.

Zu den kostbarsten „Poesien“ Tizians zählen vor allem seine späten Werke Raub der Europa (1559-62) und Nymphe und Schäfer (um 1570-75). Die Einheit von Natur und Mensch ist in der Körperhaltung Europas meisterhaft dargestellt. In ihrem instinktiven Widerstand ist zugleich ihr unwiderstehlicher Drang nach physischer Hingabe zum Vorschein gebracht. Ihr flatterndes, vom Körper losgelöstes purpurrotes Kleid steht für die angegriffene Würde des phönizianischen Königshauses, während ihre durchsichtige Unterwäsche die bedrohte Unschuld eines Mädchens andeutet. Mit einer Hand rafft sie ihr Kleid nach Kräften, um diese Werte des gesellschaftlichen und privaten Lebens zu bewahren. Zugleich hält sie mit der anderen Hand das Horn des Stiers fest. Ihre Haltung ist doppeldeutig: Sie muss sich ausgerechnet am Zeichen der Männlichkeit festhalten, um nicht zu ertrinken, fügt sich damit bewußt oder unbewußt dem Willen des Entführers. Ihr Gesicht zeigt mehr den Schrecken, ihr Unterleib mit geöffneten Beinen verrät jedoch eher das Entzücken der Unterwerfung unter natürliche Mächte. Das Thema der Verschmelzung von Natur und Mensch tritt sowohl in der Gesamtkonstruktion der Bildfläche als auch in der Behandlung der Farben zu Tage. Das Bild teilt sich einmal diagonal in zwei Dreiecke und zum anderen horizontal wiederum in zwei Schichten. Das rechte Dreieck, das von Europa und dem in einen Stier verwandelten Zeus besetzt ist, steht dem linken symmetrisch gegenüber, in dem der heilige Götterberg Olymp in der Ferne und die Küstenlandschaft von Phönizien jeweils als Herkunftsort von Zeus bzw. Europa gemalt sind. Der Götterberg ist von einer geheimnisvollen Aura umhüllt; an der Küste rufen die in Panik geratenen Phönizier, der Vater und König Agenor voran, nach ihrer entführten Prinzessin. Zwischen dem Olymp und der Erde sowie zwischen Himmel und Meer verläuft die Horizontale, die gemäß dem Thema des Bildes die beiden Schichten mehr verschmilzt als trennt. Diese koloristische Wirkung gilt als das Wesensmerkmal der wenigen Spätwerke Tizians wie das Bild Nymphe und Schäfer. Hatte der Maler seine frühen Bilder wie Bacchanalien (um 1520) und Venus von Urbino (1538) „mit Feinheit und unglaublicher Sorgfalt ausgeführt“,26 so löst er die glatt geschlossene Bildoberfläche nun ins dunkle Geflimmer von Luft auf, um den Zustand des Eingebundenseins von Menschen in eine geheimnisvoll anmutende Landschaft zu schildern. Interessanterweise entspricht dieser diachronische Wandel der Maltechnik Tizians ungefähr dem oben festgestellten synchronischen Unterschied zwischen Raffael und Leonardo.

Das Zusammenkommen von göttlichen Urmächten der Natur und menschlichen Daseinsgesetzen wird im Werk Raub der Europa unter anderem durch die Verschmelzung von Himmel und Erde bzw. Meer dargestellt, die sich in weiteren Schichten wiederholt, und zwar in der Verbindung zwischen dem Olymp und der phönizischen Küste sowie dem Berg als Sitz des Gottes Zeus und dem Meer als Ort seines menschlichen Abenteuers. Zu den beliebten Motiven der venezianischen Malerei gehört eben in diesem Zusammenhang auch die Badestelle, die als Treffpunkt von zwei Welten häufig vorkommt. Unter dem losen Vorwand der Mythologie wurden badende Frauenakte vor die Folie einer landschaftlichen Szenerie gesetzt, um die stimmungsvolle Einheit von Natur und Mensch zu evozieren. Palma Vecchio hat diese Tradition in seinem Werk Badende Nymphen (um 1525) fortgeführt; ihm sollte der Münchner Maler Johann Rottenhammer (1564-1625) folgen, der noch im 17. Jahrhundert mythologische Bilder wie Diana und Aktäon (1602) produzierte. Wie bei Botticellis und Tizians profanen und Michelangelos biblischen Motiven dienen die Badeszenen der beiden Maler nicht primär zur Darbietung einer Götterwelt, sondern im Grunde zur Selbstdarstellung des Menschen. Dem Frevler Aktäon sprießt beim Anblicken der Göttin sofort ein Geweih auf der Stirn: Wer einen Gott erblickt, muss sterben. Diese alte Vorstellung nimmt der Maler aber nur zum Vorwand, um die Bildfläche mit seinem eigentlichen, ästhetischen und anthropologischen Anliegen auszufüllen. Dementsprechend ist der unglückliche Jäger kaum merklich in die Ecke verwiesen.

Den göttlichen Badeplatz brauchte man nur durch einen irdischen zu ersetzen, um die Einheit von Natur und Mensch in der realen Welt zu demonstrieren. Die europäische Malerei musste aber darauf noch lange warten und zugleich leiden, bis sie Akte auch ohne direkte Berufung auf Mythologie darstellen durfte. Sei es die Vitalität bei Rubens (Die drei Grazien, 1639/40) oder bei Poussin im 17., sei es die wollüstige Sinnlichkeit bei Boucher (Herkules und Omphale, um 1730) im 18. oder bei Ingres (Odaliske, 1842; Das türkische Bad, 1859-63) im 19. Jahrhundert, war zur Darstellung weiblicher Körperlichkeit noch immer ein außerirdischer bzw. außereuropäischer Bezug nötig. Erst bei der Genremalerei von Manet und Renoir finden sich Beispiele, in denen das Baden im Freien in den Kreis des realen irdischen Menschenlebens hereingeholt worden ist. Weder Namen noch Requisiten wollten und mussten sie nunmehr aus der Mythologie entlehnen. Manets Frühstück im Freien (1863) wurde allerdings noch von der zimperlichen Öffentlichkeit abgelehnt. Um das Bild vor dem Ausstellungsverbot zu bewahren, reichte die romantisch anmutende Waldeinsamkeit nicht aus. Als anstößig empfand die damalige Kritik insbesondere die Figurenkonstellation, die auf käufliche Liebe hinzudeuten schien.

Renoirs grandiose Badeszene Les Grandes Baigneuses (1884-87) dagegen, in der junge Mädchen mit gesunder Sinnlichkeit und ungehemmtem Frohsinn protzen, war ohne weiteres salonfähig. Die Naturszene ist hier diagonal in zwei Schichten geteilt, wobei die unsichtbare Trennlinie von unten links nach oben rechts läuft: Der dunkle Wald fungiert gleichsam als eine Schutzmauer für die Figuren sowie das rechte Dreieck, in dem das klare Talwasser und die langsam ansteigende hügelige Landschaft dargestellt sind. Der Berg ist sichtbar als Herkunftsort des Wassers angedeutet und somit auf die Badenden bezogen, die durch den Wald von ihrem Alltag getrennt sind und sich in der Mutter Natur geborgen fühlen. Aus der vollkommenen Harmonie von Konturen und Farben, dem üppigen Dunkelgrün des Dickichts und dem frischen Blau des Wassers und dann dieser heilen Landschaft und den lebensfrohen Figuren entsteht eine arkadische, mythische Atmosphäre. Die Mythologie ist aber zugunsten der Realität in dem Maße gedämpft, wie auf der angenehm rundlichen Bergkuppe, der sich oben links unauffällig in der Ferne verliert, keine mythologischen Requisiten mehr zu sehen sind. Bei Palma waren ein Nymphäum und eine Götterburg nötig wie später bei Rottenhammer ein Tempel der Göttin Diana. Angesichts der unbekümmerten Lebensfreude, die in Körper und Gesicht der irdischen Mädchen pulsiert, dürfte man für das Bild Renoirs den realistischen koreanischen Titel Fröhliche Unterhaltungen am Bach in Anspruch nehmen.

Optimismus ist nämlich ein typisches Kennzeichen der koreanischen Genrebilder. Das lässt sich genauer beobachten, wenn man sie weiter mit europäischen Beispielen vergleicht. Hierzu betrachten wir eine Schifffahrtsszene in Bezug auf ein ähnlich strukturiertes Werk von Caspar David Friedrich (1774-1840). Bei den Romantikern, die nahen wie fernen Ländern und Landschaften gleichsam eine grenzenlose Beachtung schenkten, wird der Fluss häufig mit Tod in Verbindung gebracht. In Deutschland ist es das Loreley-Motiv. Repräsentativ für ganz Europa ist der Totenschiffer Charon aus der griechischen Mythologie. Das Bild Schiff auf der Elbe im Frühnebel (um 1821) von C. D. Friedrich scheint auf den ersten Blick durch die hellen Farben und die tüchtige Arbeit der Schiffer eine frische Morgenstimmung zu verbreiten. Das Schiff fährt von links nach rechts. Der Weinberg auf dem jenseitigen Ufer verliert sich in der nebligen Hügelkette, die rechts mit dem vorderen Ufer zusammenzutreffen scheint. Man fährt anscheinend in eine Bucht oder zu einem Hafen, obwohl der Titel auf Richtung Nordsee verweist. Es entsteht der Gesamteindruck, dass das Bild auf das Totenschiff Charons hindeutet.

Eine derartige tiefsinnige Trauer des vergänglichen Lebens kennen die koreanischen Maler nicht oder wollen sie nicht wahrnehmen. Während die Freude auf der Bootsfahrt auf dem reinen Fluss von Yunbok Shin leicht satirisch dargestellt ist, zeigt die Wasserfahrt beim Schilffflötenspiel und Trommelschalg von Sokshin Kim (1758-?) einen Festtag, an dem die Leute bei der Bootsfahrt oder beim Spaziergang die bergige Landschaft genießen. An der Fähranlegestelle fragen zwei vornehm angezogene Männer ungeduldig nach der nächsten Abfahrt. Der mit Kiefern bedeckte Berg im Hintergrund zeigt seine nackte Felsenwand, ragt betont hervor und fordert damit eine besondere Aufmerksamkeit der Figuren und des Betrachters. Wenn auch nicht weit von Dörfern entfernt, so liegt er doch vom Alltagsleben getrennt und verkörpert die Utopie wie allgemein in der Berg- und Wassermalerei. So ist in diesem Sittenbild der Landschaft Vorzug gegeben, was wiederum darauf hinweist, dass Sansuhwa die Hauptgattung der traditionellen koreanischen Malerei ist.

Die koreanischen Genrebilder sind durch Humor und Frohsinn gekennzeichnet. Charakteristisch für sie ist auch die Verbindung von Landschaft und Mensch. Die Einheit von Berg und Wasser, die von der Natur gegeben und damit ein bestimmender Faktor der koreanischen Kultur geworden ist, stellt notwendigerweise ein zentrales Leitmotiv in der klassischen Literatur und Malerei Koreas dar. Im Bewusstsein wie im Leben der Koreaner wird sie weiter wirken, auch wenn ihre Landschaft durch wirtschaftliche Nutzung zunehmend überstrapaziert wird. Die Harmonie zwischen Berg und Wasser, die sich im Sinne der Einheit von Natur und Mensch zu einer Lebensphilosophie entwickelt hat, lässt sich für viele Kulturbereiche von innen und außen geltend machen. Von diesem Bezugspunkt aus können wir mehr Verbindendes als Trennendes entdecken. Das Motto auf dem österreichischen 500-Schilling-Schein z.B. kann man auch auf koreanische Art und Weise lesen: „Die beiden Geschlechter stehen in einer zu engen Verbindung, / sind voneinander zu abhängig, / als dass Zustände, / die das eine treffen, / das andere nicht berühren sollten. Rosa Mayreder, 1905.“ Möge die hier ausgedrückte dialektische Hellsicht, welche die Berg-Wasser-Einheit anklingen lässt und damit auch auf das allgemeine Verhältnis von Natur und Mensch zu übertragen wäre, die bei der Einführung des Euros angedeutete Allmacht der Ökonomie überleben, der den Geldschein samt dem Motto wird bald verschwinden lassen.


ANMERKUNGEN

1 Umyang heißt im Chinesischen Yinyang, bedeutet dunkel und hell, das Negative und das Positive, das Weibliche und das Männliche u.ä. Ohaeng sind „fünf Grundelemente“ der physischen Welt: Feuer, Wasser, Holz (Baum), Metall und Erde.

2 Pungsu im Sinne von Jangpungduksu : „Wind bergen und Wasser gewinnen“; Jiri heißt heute Geographie.

3 Im allgemeinen waren Bergnamen in Korea dauerhafter als Ortsnamen. Bei Neugründung einer Dynastie wurden Großstädte, die Hauptstadt voran, in der Regel umbenannt, während die buddhistischen Namen zahlreicher Berge und Bergspitzen sogar das antibuddhistische, konfuzianische Chosun-Reich überdauert haben.

4 Vgl. Kyong-Suk Son: Hankukui Sanchon [Berge und Ströme Koreas], Seoul 1976, S. 53.

5 Vgl. Hankuk Minjokmunhwa Daebaekkwasajon [Große Enzyklopädie der koreanischen Kultur], Bd. 11. Seoul 1991, S. 163.

6 Ebd., Bd. 4, S. 158.

7 Diese Geschichte gehört insofern zur Gattung Sage, als der Handlungsort genannt ist. Andererseits fehlt hier aber die für eine Sage konstitutive Zeitangabe.

8 Koreanische Märchen, hrsg. von Traute Scharf, Frankfurt a. M.: Fischer 1973, S. 29.

9 Yongzun Rhie: Sagen aus dem Diamantgebirge [Kumgangsan Jonsol], Pyongyang: Verlag der Soziologie [Sahoekwahak Chulpansa] 1991 [Faksimiledruck: Seoul, Hankukmunhwasa 1995], S. 76-81.

10 Zusammengefasst vom Verf. Vgl. Korean Folk-tales, retold by James Riordan, Oxford/New York/Toronto: Oxford University Press, 1994, S. 21-30. Von dem Märchen sind viele Versionen überliefert und nacherzählt, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden. In einer nordkoreanischen Neufassung kommt der Holzfäller zusammen mit seiner Familie auf die Erde zurück und führt ein glückliches Leben. Dem Ehepaar, auch der Sonnyo, gefällt das irdische Leben im schönen Kumgangsan nämlich besser als das Himmelreich. Die alte Mutter tritt in dieser Version nicht auf. Vgl. Yongzun Rhie, a.a.O., S. 80 f.

11 Ebd., S. 74-76.

12 Songs of the Kisaeng. Courtesan Poetry of the Last Korean Dynasty. Translated and introduced by Constantine Contogenis and Wolhee Choe. NY 1997, S. 28. Die gleiche Konstellation von Berg/Frau und Wasser/Mann ist noch einmal dargestellt in Old Mountain: „Old mountain, here you are still, / But these are not the same waters: // They have not begun to age, / Having flowed on each day, each night. // My lover has been pure as water, / Coming to me, going away.“ Ebd., S. 29. Kursiv vom Verf. H.-S. Yim.

13 Kungfutse: Gespräche. Lun Yü, übers. von Richard Wilhelm, Düsseldorf und Köln 1955, S. 78 (Buch IV, 21).

14 The Silence of Love. Twentieth-Century Korean Poetry. Edited and with an Introduction by Peter H. Lee. The University Press of Hawaii, Honolulu 1980, S. 58. Kursiv vom Verf. H.-S. Yim.

15 Vgl. Youngmin Kwon: Eine neue Lektüre vom Taebaeksanmaek. Seoul: Haenaem 1996, S. 27 f.

16 So nach dem chinesischen Maler Guo Xi (um 1020-1090). Siehe Hugh Honour / John Fleming: Weltgeschichte der Kunst. Darmstadt 2000, S. 264.

17 Vgl. ebd.

18 Laotse. Taoteking, übers. und erläutert von Richard Wilhelm. Düsseldorf und Köln 1957, S. 8, 121. Diese Stelle ist in Europa vor allen durch Brechts Übernahme für seine Ballde über Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege Laotses in die Emigration (1939) bekannt geworden.

19 Hugh Honour / John Fleming, a.a.O., S. 263.

20 Kansongmunhwa, Bd. Hoihwa 36: Tanwon und Hyewon, hrsg. von Wansu Choi u.a., Seoul: Institut für Koreanische Malerei 2000, S. 111.

21 John Ruskin: Modern painters. London: George Allen 1906.

22 Hugh Honour / John Fleming, a.a.o., S. 467

23 Ebd., S. 434.

24 In Grimms Märchen Gänsemagd muss sich das Mädchen vor allem beim Kämmen gegen den zudringlichen Hirtenjungen Kürdchen wehren.

25 Bei dieser Interpretation stimme ich Wansu Choi zu, der allerdings die im Bild angedeutete Familienzugehörigkeit der weiblichen Figuren nicht wahrnimmt. Vgl. Kansongmunhwa, Bd. 59, Malerei, H. 36: Tanwon [Kim, Hongdo] und Hyewon [Shin, Yunbok], hrsg. von Wansu Choi, Byongsam Jong und Insan Paek, Institut für Koreanische Malerei, Seoul 2000, S. 141 (Bild: S. 70).

26 Bei Vasari heißt es: „Die frühen [Bilder] sind mit Feinheit und unglaublicher Sorgfalt ausgeführt, dass man sie aus der Nähe und von weitem betrachten kann; die letzteren sind grob und fleckig heruntergestrichen, so dass sie […] erst aus der Entfernung vollkommen erscheinen.“ Zit. nach: Kunsthistorisches Museum Wien. Die Gemäldegalerie, Wien 1996, S. 52. Vgl. auch Hugh Honour u.a., a.a.O., S. 457 f.