Von Juri Mosidze (Tbilissi)
Nach den alten georgischen Geschichtsquellen wurde der uralte georgische Staat um den Berg "Kartli" gebildet (das ist der Berg, der der alten Residenzstadt Mzcheta gegenüber steht). Am Hang des Berges "Kartli" soll sich das Grab von Kartlos, des mythischen Vaters der Georgier befinden. Nach alten Quellen soll Kartlos das allerälteste und -wichtigste Idol aller Georgier gewesen sein. Laut dieser Mitteilung wird der Berg "Kartli" als Sakralzentrum des Staates (der Welt) bezeichnet und damit wird auch verständlich, warum er auch als Verwaltungszentrum verstanden wird.
Nach den georgischen Vorstellungen ist der Berg das Haus der Gottheiten. Bethäuser wurden (öfters) auf den Berggipfeln aufgebaut, so besuchten sich die Gottheiten als himmlisches Feuer gegenseitig. Die Gottheiten waren durch die Geschwisterschaft oder durch eine künstliche Verwandtschaft miteinander verbunden. Diese wurden alle "Kinder Gottes" genannt. Es ist denkbar, dass das uralte Pantheon einen bestimmten Verwandtenkreis repräsentierte (wie dies auch aus den Mythen und Religionen der alten Völker der Welt bekannt ist).
In der christlichen Periode wurden an den Stellen, wo früher heidnische Bethäuser standen, christliche Kirchen aufgebaut, um den hier durchgeführten Festen und Riten einen christlichen Charakter zu verleihen.
Besonders viele Kirchen sind dem Heiligen Georg gewidmet worden, was von ausländischen Autoren sowie georgischen Forschern öfters erwähnt wird (z.B. von Wachuschti Bagrationi, XVII. Jahrhundert). Der Heilige Georg besitzt im georgischen Volksmund sakrale Natur und enthält viele Eigenschaften, die für die Kriegs- und Fruchtbarkeitsgötter des nahen Asiens charakteristisch waren. Eines von seinen Hauptkennzeichen ist, Bethäuser auf den Berggipfeln errichtet zu haben.
Auf dem Berg, Mzcheta gegenüber, sollen drei Gottheiten gestanden haben, die die staatliche Religion Iberiens verkörperten. Der wichtigste von denen soll Armazi gewesen sein, der Kriegs- und Wetterbeherrscher, dem in alten Zeiten sogar Menschen geopfert wurden. Man nimmt an, dass im Armazi-Kultus ein starker Einfluss der hethitischen Kultur zu spüren ist. Auf jeden Fall ist unumstritten, dass der unter den Hethitern geltende Brauch Bethäuser auf den Bergspitzen bauen zu müssen, auch im georgischen Sein eine starke Verbreitung gefunden hatte. Und das ist auch sehr selbstverständlich, denn an dem Kulturkreis, wo viele heute geltende Werte entstanden sind, auch die Vorfahren der Georgier beteiligt waren.
Der Berg als symbolische Verkörperung der die Realisation der "Überwelt" und eine Gegenerscheinung der "Unterwelt" (des Abgrunds, des Meeres usw.) in den georgischen Mythen und Religion, stellt sich als eines der Hauptobjekte dar, mit deren adäquate Bedeutungen das ganze sakral-semantische Feld gefüllt ist. Er und seine Parallelen erscheinen als ein soziales Symbol, als ein sakrales Zentrum und auch als ein Kommunikationsmittel zwischen zwei Weltteilen, dem Himmel und der Erde. In Hinsicht auf diese Funktion könnte der Berg nur durch den am Himmel hängenden Turm( d.h. der Turm, der mit einer Kette am Himmel angebunden ist) ersetzt werden, oder durch die Beteiche, die genauso mit einer Kette am Himmel angebunden ist und auf der die vom Himmel gekommenen Gottheiten weilen, sowie durch die Haussäulen, die am Herd stehen und zusammen mit ihm das Zentrum der Familie darstellen und durch viele andere Elemente, deren symbolischer Wert durch das sie alle einschließende semantische Feld bedingt ist.
In verschiedenen Gebieten Georgiens werden Feste gefeiert, die mit dem Berg verbunden sind und die nur eine regionale Verbreitung haben. Das ist durch den starken Bergkultus vorausgesetzt, dessen Relikte heute noch zu erkennen sind. Unter den georgischen Mohammedanern war ein ähnliches Fest verbreitet, das unter anderem auch das Besteigen eines mythischen Berges meinte, d.h. mit seiner Bedeutung der Wichtigkeit der Mekka- Reise gleichgesetzt wurde.
Der Berg und der Turm, oder der auf dem Berg stehende Baum, schließlich das sakrale Objekt, das mit der Kette am Himmel angebunden ist, sind die Betzentren, die sakralen Zentren, von denen aus Verbindungen zwischen den an der Weltachse liegenden Sektoren gezogen wurden. Nach den georgischen Vorstellungen ist dieser Weltbaum mit einem Weinstock umbunden, der die Lebenskraft verleihende Weintrauben hervorbringt. Nach einem alten Volksglauben werden Kinder, die diese Trauben nicht zu essen vermögen, vorzeitig ums Leben kommen.
Die am Himmel mit der Kette angebundenen Bäume und Bethäuser waren unter alten Indoeuropäern gut bekannt. Solche Vorstellungen hatten sie noch in den Anfangszeiten des Christentums. Als Beispiel könnten wir an dieser Stelle den in alten Schriften beschriebenen heidnischen Tempel nennen, der in der schwedischen Stadt Uppsala gestanden habe und an dessen Dach eine goldene Kette gebunden sei. In diesem Tempel sollen drei große Götterstatuen (Odin, Thor, Frija) gestanden haben, draußen aber, vor dem Eingang des Tempels stand ein riesengroßer heiliger Baum, in dessen Wurzeln eine Quelle entsprang. Hier fanden heidnische Menschenopferungen statt. Wahrscheinlich ist ein ähnlicher Baum bei Puschkin gemeint, wenn er schreibt: "An der Meeresbucht stand eine grüne Eiche, mit einer goldenen Kette umbunden…."
Der Baum und seine semantischen Variationen (Festung, Palast) haben eine deutliche Verbindung mit der Welt der Verstorbenen, wo die soziale Symbolik zur Aufbewahrung der irdischen Werte und zu Ihrer Übertragung in die Geisterwelt berufen ist. Nach einer Version der georgischen Vorstellungen steht in der Geisterwelt eine weiße Festung, in die die Geister von Verstorbenen unterkommen. Diese Vorstellung steht im Einklang mit dem germanischen Walhalla, wo die Geister der gefallenen Krieger saßen und feierten. Das Gebäude als Modell der Geisterwelt ist in beiden Fällen vorhanden.
Der Berg ist mit seiner sozial-kulturellen und symbolischen Bedeutung in der georgischen Welt unausschöpfbar. Er wiederholt jene Grundbestimmungen, auf die sich der alte indoeuropäische Mythos und Epos gründen. Die gemeinsame Ideenwelt, an der zusammen mit den Indoeuropäern auch die Vorfahren der Georgier beteiligt waren, bedingt die mythologische Eigenart des gemeinsamen Kulturkreises, in dessen Innern Mythos, Kultus und Ritten entstanden. Die historisch entwickelte gemeinsame Ideensphäre trug zum Prozeß des friedlichen Mitlebens von Kulturen bei, bedingte die Möglichkeiten von deren Ineinanderdringen. Dieser Prozeß bestimmte seinerseits die Humanisierung der Völkerbeziehungen, die die Hauptpriorität der heutigen Welt ist. Die kulturelle "Traverse", die durch die oben beschriebenen Formen zur Erscheinung kam und praktisch die Ununterbrochenheit der Völkerzusammenarbeit beinhaltet, ist eines der Hauptkennzeichen der georgischen Kultur. Es ist jenes spezifische Kennzeichen, das durch das historische Leben herausgearbeitet worden ist.